XLIII

Erläuterung des Vorigen durch einige Beispiele

[225] Um gewiss zu seyn, dass wir unserem Dichter nicht etwas Fremdes unterschieben, seine rein antike Dichtung nicht bloss mit modernem Sinne betrachten, wollen wir, zur Bestätigung unsrer Behauptung, noch ein Paar einzelne Stellen aus dem Ganzen herausheben.

Wir haben im Vorigen gesehen, dass der Unterschied des antiken und modernen Charakters, von dem wir hier reden, vorzüglich darin besteht, dass in diesem letzteren das Feld der Betrachtung und der Empfindung mehr abgesondert bearbeitet wird, wodurch denn natürlich die hierauf gerichteten Kräfte eine höhere und mehr energische Thätigkeit erlangen. Dadurch aber wird zugleich der innere Mensch von der äussern Wirklichkeit getrennt, es wird zwischen beiden eine Gränze gezogen, so dass es nun auch Jenseits derselben ein eignes und neues Gebiet giebt.

Beide nun, die über das Leben und die unmittelbare Wirklichkeit hinausgehende Betrachtung und Empfindung, waren in dem gegenwärtigen Gedichte schwer und zart zu behandeln. Der Stoff sowohl, als die Personen desselben sind ganz und gar aus der blossen und wahren Natur genommen, es sind reine und kraftvolle, aber immer und ganz in der äussern Wirklichkeit lebende Charaktere; was zur eigentlichen Cultur gehört, durfte nur in gewissem Grade darin Platz finden; auch hätte alles, was darauf hinausgegangen wäre, den Menschen in einer Art von Gegensatz mit der Natur zu zeigen, gegen das Wesen der epischen Dichtung verstossen, die gerade diese beiden Gegenstände harmonisch zu verknüpfen bestimmt ist, nie, wie die lyrische, plötzlich abbrechen darf, sondern alle aufgeregten Bewegungen wieder beruhigen, alle angeschlagenen Misklänge[225] auflösen muss. Wo sich also der Dichter in dieser Gattung zum Idealischen erhebt, da muss er es immer zur Wirklichkeit zurückführen, und dadurch verknüpft er die innere Idealität zugleich mit der ausseren Wahrheit.

Es giebt vielleicht keine rührendere und erhabnere Stelle, keine, aus welcher die Erfahrung aller Jahrhunderte und die Eigenthümlichkeit unserer Zeit deutlicher spricht, als die Worte, welche der Dichter dem unglücklichen früheren Verlobten Dorotheens über die welterschütternden Bewegungen, von denen wir in diesen letzten Jahren Augenzeugen gewesen sind, (S. 224.) in den Mund legt. »Alles regt sich einmal,« sagt er; »keine Form, wie heilig sie sey, kein Band, wie fest Freundschaft oder Liebe es geknüpft habe, ist mehr dauerhaft. Darum setze überall nur leicht den beweglichen Fuss auf; darum schätze das Leben nicht höher, als ein anderes Gut, und alle Güter sind trüglich.« Welche natürliche und rührende Betrachtung! die aber freilich nur dem geläufig seyn kann, der mehr in Ideen, als in der Wirklichkeit lebt, der, erhaben über die Freuden des Lebens und die Güter der Welt, sein Glück nicht auf die Dauer des ersteren und an den Genuss der letzteren knüpft und leicht bereit, das, was er besass, für etwas Neues aufzugeben, jenes mit minder rüstigem Muthe bewahrt und vertheidigt. Wer wird läugnen, dass diess eine schöne und erhabene Gesinnung ist? aber wer auch erkennt nicht, dass eben diese jene fürchterliche Bewegung theils mit hervorgebracht, theils unterhalten und fortgeleitet hat?

Wie schön nimmt Herrmann diess auf, wie rein lässt er alles daran fahren, was seiner kraftvollen Natur nicht gemäss ist, und hält sich allein an das Eine fest, wodurch der Mensch sich dicht an die Wirklichkeit anschliessen, seine Forderungen mit den Fügungen des Schicksals vereinigen kann!


Der Mensch,

sagt er,

der zur schwankenden Zeit noch schwankend gesinnt ist,

[226] Der vermehret das Uebel und breitet es weiter und weiter;

Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich.


»Nicht also mit Kummer zu bewahren und mit Sorge zu geniessen geziemt sich, sondern mit Muth und Kraft zu vertheidigen, was man besitzt.« Wie treflich paart sich nun in ihm und Dorotheen dieser männliche Muth mit jener sanfteren, aber gleich hohen Gesinnung, die jedes Glück dankbar ergreift, aber keinem vertraut und andre und bessere Güter kennt, als deren Besitz trüglich und deren Daseyn vergänglich ist.

Von den sentimentalen Stellen heben wir nur zwei aus, über die unstreitig jeder Leser mit uns einig seyn wird, dass sie in einem alten Dichter keinen Platz gefunden hätten.

Die erste ist die, wo Herrmann in dem Gespräche mit seiner Mutter (S. 89.) die Einsamkeit und die Leere schildert, die sein Herz oft, von Sehnsucht gepresst, empfindet.


Aber, ach! nicht das Sparen allein, um spät zu geniessen,

Macht das Glück, es macht nicht das Glück der Haufe beim Haufen,

Nicht der Acker am Acker, so schön sich die Güter auch schliessen.

Denn der Vater wird alt, und mit ihm altern die Söhne,

Ohne die Freude des Tags und mit der Sorge für morgen.

Sagt mir und schauet hinab, wie herrlich liegen die schönen

Reichen Gebreite nicht da und unten Weinberg und Garten,

Dort die Scheunen und Ställe, die schöne Reihe der Güter!

Aber seh' ich dann dort das Hinterhaus, wo an dem Giebel

Sich das Fenster uns zeigt von meinem Stübchen im Dache,

Denk' ich die Zeiten zurück, wie manche Nacht ich den Mond schon[227]

Dort erwartet und schon so manchen Morgen die Sonne,

Wenn der gesunde Schlaf mir nur wenige Stunden genügte:

Ach! da kommt mir so einsam vor, wie die Kammer, der Hof und

Garten, das herrliche Feld, das über die Hügel sich hinstreckt;

Alles liegt so öde vor mir –


Aber dass man nicht Empfindungen vermuthe, welche dem Sohne der Natur fremd sind, nicht aus dem Charakter der Person und des Gedichts herausgehe, so schildern die unmittelbar hierauf folgenden Worte:


– ich entbehre der Gattin


auf einmal die ganze Einfachheit und Natürlichkeit seines Wunsches. Sie sind um so ausdrucksvoller, als sie, verbunden mit dem Vorhergehenden, die Empfindungen schildern, die er mit einem Verhältniss verknüpft, dessen Entbehren ihm jeden Genuss und sein ganzes Leben unschmackhaft macht, und als sie sein höheres, zarteres, idealischeres Wesen in Vergleichung mit seinem Vater zeigen, der, (S. S. 40. 46.) eine frohe, gutmüthige und thätige, aber gewöhnlichere Natur, in dem Augenblick, da er das Mädchen sah, das ihm gefiel, den Entschluss es zu besitzen fasste und denselben mit munterem Scherz auch sogleich auszuführen begann.

Diese schwermüthige Stimmung einer unerfüllten, sich selbst nicht recht verständlichen Sehnsucht war den Alten und besonders den Griechen fremd. Bei ihnen, in ihrer mehr sinnlichen und geniessenden Natur, in ihrem freieren und leichteren Leben entstand immer die Begierde nur zugleich mit dem Gegenstande oder führte denselben doch in glücklichem Bunde immer unmittelbar mit herbei, und wenn es vielleicht davon Ausnahmen gab, so konnten sie dem Dichter nicht vorschweben, der, immer nur hell und freundlich beleuchtete und grosse Massen im Auge, nur auf die Natur und die Welt, nie einseitig in sich zurück blickte. Dass in uns Gedanken und Empfindungen sich unruhiger drängen, dass[228] unsre äussere Lage uns öfter Hindernisse und Arbeit entgegensetzt, als uns leichten und frohen Genuss giebt, und uns öfter mit strengem Ernst in uns zurückscheucht, diess richtet zwischen unsrem Gemüth und der Welt eine oft unübersteigliche und undurchdringliche Scheidewand auf.

Die zweite Stelle, die wir anführen wollten, ist von ganz anderer Natur. Sie ist nicht den Alten überhaupt, nur ihren frühesten Mustern fremd und müsste, wenn der Dichter sie nicht so fest dem Ganzen einverleibt hätte, zu der Gattung der spielenden gezählt werden. Wir meynen hier den Augenblick, wo die beiden Liebenden sich in dem Spiegel des Brunnens zuwinken, den der Dichter sogar zweimal, nicht ohne eine gewissermassen absichtliche Symmetrie, beim Anfange und am Ende ihres Gesprächs benutzt hat. (S. 165. 171.)

Dieser Einfall, ein Medium dazwischenzuschieben, in welchem sich die Blicke des Jünglings und des Mädchens dreister, als in der Wirklichkeit begegnen, beruht schon auf etwas Aehnlichem mit dem, was wir so eben ausführten, auf einer gewissen Schüchternheit, einer Ungewissheit des Gelingens; es ist schon etwas, das aus der blossen Natur hinausgeht und eine eigne Stimmung der Einbildungskraft voraussetzt. Die späteren Griechen und Römer, z.B. Ovid, behandeln Stellen dieser Art, die in ihnen sogar häufig vorkommen, auf eine gewissermassen tändelnde Weise, bloss als zierliche Bilder, als gefällige Spiele der Phantasie. Unser Dichter aber hat diesen Moment so gut aus der Empfindung der beiden Personen hervorgehen lassen und ihn so glücklich motivirt, dass er ihm dadurch einen viel grösseren Gehalt und eine viel wichtigere Wirkung verschaft.

Allein Stellen dieser Art könnten nicht anders, als die Einheit des Ganzen stören, wenn nicht diess selbst eine solche eben beschriebene Richtung hätte. Diese Richtung aber ist durchaus unverkennbar. Wie wir im Vorigen die Schilderung Dorotheens vom Anfange bis zum Ende des Gedichts verfolgten, stiessen wir eigentlich nur immer auf andre und andre Entwicklungen ihres Charakters; und so ist es überall nichts anders, als das innere und geistige Wesen der verschiednen[229] Personen, das überall, nur immer lebendig und immer sinnlich gestaltet, vor uns dasteht. Es sind nicht so sehr ihre Handlungen, an und für sich genommen, es sind mehr ihre Charaktere, die, aber immer bloss in diesen Handlungen, uns anziehen, uns auf die verschiednen Formen der Menschheit überhaupt, auf das, was sie unterscheidet und wieder zu einem Ganzen zusammenschliesst, aber immer mit der reinen Thätigkeit unsrer Einbildungskraft, immer vollkommen künstlerisch und bildend gestimmt, überführt.

Wenn sich daher unser Dichter der vollkommenen Objectivität der Alten, der ganzen Bestimmtheit ihrer Formen bemeistert hat, so kleidet er in diess Gewand einen Gehalt, welcher ihnen so wenig eigen ist, dass sie uns nicht einmal veranlassen, denselben bei ihnen zu suchen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 225-230.
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