XLIV

Reicher Gehalt dieses Gedichts für den Geist und die Empfindung – Eigenthümliche Behandlung desselben

[230] Je mehr wir unsre intellectuellen Kräfte auf die Betrachtung und Bearbeitung der Welt ausser uns anwenden, je mehr wir unsre geistige Natur auf sie übertragen, desto mehr vervielfältigen wir unsre Beziehungen auf dieselbe. Die Gegenstände um uns her erscheinen uns nur als das, was unser Verstand in ihnen unterscheidet; selbst unsre Sinne bedürfen erst seiner Leitung, mit der Erweiterung unsrer Einsicht wächst daher auch das Gebiet derselben; in der That ist die Natur mit jedem Jahrhundert reicher an Individuen für uns geworden, und wenn der Ungebildete in einer ganzen Menge von Objecten nur eine einförmige und ungeschiedene Masse erblickt, so unterscheidet der kenntnissvolle Beobachter in einem einzigen Punkt noch eine ganze Welt von Erscheinungen.

So wie diese Thätigkeit unsrer geistigen Kräfte das sinnliche Gebiet der Natur erweitert, eben so bereichert sie innerhalb unsres Gemüths die Masse unsrer Gedanken und Empfindungen. Auch hier steht es in unserer Willkühr, die[230] Mannigfaltigkeit der Verhältnisse bis ins Unendliche hin zu vermehren; wir dürfen nur auch hier immer das Zusammengesetzte in seine Bestandtheile auflösen, nur auch hier das Einzelne immer in andre und andre Verbindungen bringen. Was in der Natur und vor unsren Sinnen einfach erscheint, können wir durch den Gedanken zerlegen und für das Resultat, das wir auf diesem, bloss intellectuellen Wege erhalten, dennoch wieder unsre Empfindung erwärmen, da diese sich eben so leicht auf unsinnliche, als auf sinnliche Gegenstände bezieht. Mit der Empfindung kann sich die Einbildungskraft verbinden, und so können wir uns durch die Hülfe von beiden eine eigene Welt schaffen, die, durchaus unabhängig von der Wirklichkeit und den Sinnen, doch eben so, als jene auf uns einwirkt, durchaus nur unsre eigne Schöpfung ist, aber dennoch für uns die vollkommne Realität der Natur besitzt.

Wir geben diesem ganzen Verfahren unsres Verstandes den Namen der Verfeinerung, und diess ist in der That auch der passendste, den wir demselben beilegen könnten. Denn es besteht wirklich darin, dass das Einfache gespalten, das Grobe verfeinert wird; es ist ferner, da wir alle unsre natürlichen Bedürfnisse auch ohne dasselbe befriedigen könnten, gleichsam ein Luxus unsrer Natur, aber ein solcher, zu dem wir nicht allein nothwendig durch die Organisation unsres Geistes gezwungen sind, sondern ohne den wir auch nie die höchsten Endzwecke der Menschheit zu erfüllen im Stande wären.

Diese Verfeinerung hat mit den frühsten Zeiten der Menschheit angefangen, sie ist immer nothwendig zugleich mit dem Begriffe derselben gegeben; aber es ist Ein Punkt in derselben, der sich so merklich darin unterscheidet, dass er allein vorzugsweise diesen Namen an sich trägt.

Der Mensch kann nemlich entweder in harmonischem Bunde mit der Natur fortgehen, seinen Geist mit ihrer Beobachtung, seine Einbildungskraft mit ihren Formen beschäftigen, seine Empfindung auf Gegenstände richten, die sie ihm darbietet, die Befriedigung seiner Neigungen ganz und allein in ihr finden; oder er kann sich einsamer in sein[231] Gemüth verschliessen, seine Vernunft abgesonderter beschäftigen, seine Einbildungskraft mehr mit einem Stoffe nähren, den er allein aus sich selbst nimmt, seiner Empfindung eigen geschaffene Gegenstände geben. Natürlich werden alsdann seine Neigungen auch nicht selten auf etwas gerichtet seyn, wofür ihm die Natur keine Befriedigung darbietet, und er wird sogar manchmal ein Ziel verfolgen können, was ihm in ihr zu erreichen unmöglich ist. Diese Absonderung unsres Wesens und der Natur ist eine natürliche Folge der erhöhten Thätigkeit unsres Geistes, welche, die sinnlichen Formen verlassend, sich allein an den reinen Gedanken hält. Aber sie wird zugleich manchmal durch zufällige, nicht immer günstige Umstände veranlasst. Eine minder helle, freundliche, glückliche Stimmung kann uns gleichsam gezwungen in uns selbst verschliessen, und diese beiden Gründe wirken nothwendig zusammen, sobald die Menschheit ihr erstes Jünglingsalter verlässt. Aus diesem Zustande nun entspringt die Empfindung und die Stimmung, die man, im Gegensatz der naiven, die sentimentale nennt, und hier ist es, wo der Charakter der Alten und Neueren von einander abweicht.

Diese Trennung konnte nicht anders, als auch auf die Kunst einen entschiedenen Einfluss ausüben; sie musste einen modernen Charakter annehmen, wenn sie von modern gebildeten Individuen bearbeitet wurde. Auch wäre es ein niederschlagender Gedanke, wenn die Folge so vieler und thatenreicher Jahrhunderte uns nichts hinterlassen hätte, wodurch auch wir an unsrem Theile die Kunst zu bereichern im Stande wären.

Wenn daher in unsrem Gedichte ein eigenthümlicher und in seiner Gattung nicht minder treflicher Geist, als der ist, welchen wir in den Alten wahrnehmen, waltet, so ist diess eben jene höhere und feinere Sentimentalität, jener reichere Gehalt für den Verstand und die Empfindung, der uns zu einem freieren Schwunge der Gedanken begeistert und unser Gefühl leiser und zarter bewegt. Diess ist der moderne Charakter, den es deutlich und unverkennbar an der Stirn trägt.[232]

Dieser Charakter ist unserm Dichter so eigenthümlich, dass wir ihn in allen seinen Werken wiedererkennen; aber er weiss ihn auf eine so grosse und wunderbare Weise zu behandeln, ihn wiederum so dicht an den der Alten anzuschliessen, dass er es wagen konnte, ihn sogar einem ächt antiken Stoff, seiner Iphigenie aufzudrücken, ohne dass wir darin einen störenden Misklang vernehmen. Und diese Behandlung ist es, die hier noch einige Erörterung verdient.

Das Erste, was bei der Verfeinerung des Gedankens und der Empfindung zu leiden Gefahr läuft, ist die natürliche Wahrheit und die schlichte Einfalt. Doch sind es gerade diese beiden Eigenschaften, welche Göthe in einem unverkennbaren Grade an sich trägt. Wie hat er es nun angefangen, zwei so verschiedenartige Dinge so eng mit einander zu verknüpfen?

Was wir mit Recht Verfeinerung nennen, kann an sich nicht der Natur widersprechen; nichts ist so natürlich, als was rein menschlich ist, und es ist der Menschheit wesentlich eingepflanzt, sich von der bloss sinnlichen Ansicht der Dinge zu einer höheren zu erheben. Wenn es der Verfeinerung also an Natur zu mangeln scheint, so ist es nur, weil wir in ihr nicht gleich die Realität wahrnehmen, die uns an dieser ins Auge fällt, weil ihr nicht geradezu ein sinnlicher Gegenstand entspricht, weil sie mehr das Werk der Energie einzelner menschlicher Kräfte, vielleicht nur in einzelnen Stimmungen, als der menschlichen Natur überhaupt scheint, und weil wir nicht sogleich absehen, wie der Weg, auf den sie führt, mit dem allgemeinen Wege der Natur und der Menschheit zusammentreffen, zu demselben Ziele gelangen kann. Es kommt daher nur darauf an, ihr diese Realität zu verschaffen, sie wirklich als Natur, nur als eine höhere und wahrhaft verfeinerte, aufzustellen.

Wir haben im Vorigen (XXXVIII.) gesehen, dass unser Dichter einen rein beobachtenden und bestimmt bildenden Sinn besitzt; wir haben gefunden, dass einem solchen äussern ein ähnlicher innerer entsprechen muss, der dieselbe Wahrheit und Festigkeit in dem innern Charakter sucht, welche jener in der äusseren Natur wahrnimmt. Dass derselbe[233] nun diesen Sinn mir jener Verfeinerung, jener hohen Sentimentalität verbindet, darauf beruht seine Eigenthümlichkeit, darauf das Geheimniss, dass er uns einen ächt modernen Charakter zeigt, ohne dass wir darum in ihm das schöne Gepräge antiker Einfachheit und Wahrheit vermissen.

Zwar scheint in dieser Verbindung auf den ersten Anblick etwas Widersprechendes zu liegen. Jener Sinn sucht die grossen und hellen Massen der Natur, also im Menschen, was der Gattung, der ganzen Menschheit angehört. Diese sentimentale Stimmung steigt in die dunkeln Tiefen des Gemüths hinab, verweilt innerhalb der engen Gränzen eines kleinen Gebiets und sogar vorzugsweise bei dem, was nur Einzelnen eigen ist. Aber es kommt nur darauf an, diess letztere gross genug zu behandeln, um diesen Widerspruch sogleich wieder aufzuheben, und diess ist es, was unsern Dichter vor anderen auszeichnet.

Wo er den Zustand des Gemüths darlegt (und eigentlich ist er überall damit beschäftigt), wo er auch den ungewöhnlichsten und leidenschaftlichsten schildert, verfährt er dennoch, gerade wie bei der Beschreibung der äussern Natur, immer ruhig und bildend und fügt alle einzelnen Theile des Ganzen fest in einander. Er lässt die Individualität, die er darstellt, aus allen Kräften der Seele zugleich hervorgehn, verwebt sie in alle Gedanken, alle Empfindungen, alle Aeusserungen des Charakters, zeigt denselben Charakter in Verbindung mit andern und führt ihn unsrer Einbildungskraft so in seinem ganzen Seyn und Wesen vor, dass wir ihn nicht bloss in einem einzelnen Augenblick, einer einzelnen Stimmung, sondern so erblicken, wie er überhaupt immer ist, seine Entwicklungen verfolgen, seine Fortschritte beurtheilen können. Er lässt nicht nach, genau und vollkommen zu erforschen, wie eine ungewöhnliche Eigenthümlichkeit, die sich ihm auf seinem Wege dichterischer Erfindung darbietet, in einem menschlichen Gemüthe als reine Wahrheit bleibend fortdauern, wie sie sich zu den übrigen nothwendigen und rein menschlichen Empfindungen verhalten, wie sich an andre Eigenthümlichkeiten anschliessen, wie[234] durch die Verbindung mit ihnen und ihr eignes natürliches Fortschreiten umgestalten kann, und er ruht nicht eher, als bis auch wir diess in seiner Darstellung deutlich wiedererkennen. Er bleibt daher nie einzeln bei ihr stehen, sondern erweitert sie auf eine unendliche Fläche und stellt sich immer in den Mittelpunkt, in dem sich doch endlich alles, was nur irgend menschlich heissen kann, nothwendig mit einander vereinigen muss. Dadurch wird sie nun, wie ungewöhnlich sie auch an sich seyn möchte, in seiner Schilderung wirklich zur Natur, erscheint weder als die Frucht einer augenblicklichen Ueberspannung der Einbildungskraft, einer künstlich übergetriebnen Empfindung noch als die Folge eines Schwunges des Geistes zu einer Höhe, auf der er sich nicht zu halten vermag, sondern als das wahre Resultat aller Gemüthskräfte in ihrem reinen Zusammenwirken.

Es kommt nur darauf an, recht menschlich gestimmt zu seyn, um das Ausserordentlichste und das Einfachste in denselben Kreis einzuschliessen. Nur für den, welchem es, wie bei den Alten nothwendig noch der Fall seyn musste, an Reichthum und Mannigfaltigkeit der innern Erfahrung fehlt, liegen gewisse Richtungen, welche die Empfindung manchmal nimmt, ausser den Schranken der natürlichen Wahrheit; nur der, welchem es, wie so oft uns Neueren, an jener hohen Einfachheit des Sinnes mangelt, weiss jenen seltnen Erscheinungen keinen allgemein verständlichen Ausdruck zu geben. Darum ist unser Dichter in einem höheren Grade, als irgend ein andrer wahrhaft menschlich zu nennen, weil kein anderer noch zugleich in so mannigfaltigen, hohen und ungewöhnlichen und doch so einfachen Tönen zu unsrem Herzen sprach.

Wer einzelne Beispiele für diese, nur ihm angehörende Eigenthümlichkeit verlangt, der erinnere sich, in welchem vorher unbekannten Sinn er den Umgang mit der Natur geschildert, welchen neuen Charakter er der Liebe, welche Tiefe und Zartheit der Weiblichkeit gegeben, wie er das Geheimniss verstanden hat, in Werthers Charakter die ungewöhnlichste Stärke und Reizbarkeit des Gefühls, eine so[235] seltne und schwärmerische Liebe, dass sie das Leben selbst ihren Empfindungen aufopfert, mit dem natürlichsten und einfachsten Sinn, mit der treuesten und naivsten Anhänglichkeit an die Schönheit der Natur und die harmlosen Freuden des kindischen Alters zu paaren.

In keinem alten Dichter wird man diese hohe, feine und idealische Sentimentalität, in keinem neueren, verbunden mit diesen Vorzügen, diese schlichte Natur, diese einfache Wahrheit, diese herzliche Innigkeit antreffen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 230-236.
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