XLIX

Rechtfertigung des bei der Zeichnung dieses Charakters gewählten Ganges

[244] Um diesen Charakter unsers Dichters so kurz und bestimmt, als es unsre Absicht war, zeichnen und diese Schilderung zugleich rechtfertigen zu können, glaubten wir den langen Weg einschlagen zu müssen, den wir nunmehr zurückgelegt haben. Da wir auf demselben vorzüglich zwei Dinge zu erörtern hatten, den einfachen Kunstsinn und den hohen intellectuellen und sentimentalen Gehalt des Dichters, so widmeten wir natürlich dem ersteren, als dem Wesentlichsten, zuerst und am ausführlichsten unsre Sorgfalt.

Wir gingen daher von dem Wesen aller Kunst überhaupt aus, und da diess in nichts andrem besteht, als in der Auflösung der Aufgabe: das Wirkliche in ein Bild zu verwandeln; so suchten wir diejenige dichterische Methode auf, welche die Einbildungskraft am entschiedensten nöthigt, ein gewisses und zwar in allen seinen formen bestimmtes Bild frei und rein aus sich selbst zu erzeugen.

Zu diesem Behuf schränkten wir die verschiedene Möglichkeit, dieser Forderung Genüge zu leisten, nach und nach ein und setzten:[244]

1., den ächt künstlerischen Styl, welcher die Einbildungskraft wirklich productiv macht und nach Idealität und Totalität strebt, dem Afterstyle entgegen, welcher entweder nicht rein bloss auf sie oder nicht stark genug auf dieselbe einwirkt und nur zu gefallen oder zu glänzen bemüht ist; (II-XII.)

2., denjenigen dichterischen, der, da er ganz auf Gestalt und Bewegung, mithin auf Objectivität hinausgeht, sich nah an das Wesen der bildenden Künste anschliesst, demjenigen, welcher mehr die ausschliesslichen Vorzüge der redenden (die unmittelbare Darstellung des Gedankens und der Empfindung) geltend macht; (XIII – XIX.)

3., denjenigen epischen, der, indem er den Leser mit seinem Gegenstande gleichsam allein lässt und die Erinnerung an den Dichter entfernt, und indem er das Bild mehr aus der Phantasie des Zuhörers von selbst hervortreten macht, als es ihr vormahlt, den höchsten Grad der Objectivität erreicht – demjenigen, der durch die entgegengesetzte Methode dieselbe mehr überhaupt zu Bildern, als zu Einem bestimmten, mehr frei und lebendig, als gesetzmässig stimmt. (XX-XXXVII.)

Nachdem wir darauf bei jedem dieser drei Punkte mit Beispielen bewiesen hatten, welcher dieser Style dem gegenwärtigen Gedicht eigen ist, und hierin, so wie in der einfachen Wahrheit des Vortrags (XXXVIII. XXXIX.) seine Aehnlichkeit mit den Werken der Alten gezeigt hatten; so konnten wir nunmehr von der Art seines Stoffs, von der Eigenthümlichkeit reden, durch die es sich wieder von jenen unterscheidet (XL-XLVII.), und damit die Schilderung seines individuellen Charakters vollenden.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 244-245.
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