XV

Verwandtschaft aller Künste unter einander – Doppeltes Verhältniss jedes Künstlers zur Kunst überhaupt und zu seiner besondren

[161] Alle Künste umschlingt ein gemeinschaftliches Band; alle haben sie dasselbe Ziel, die Phantasie auf den Gipfel ihrer[161] Kraft und ihrer Eigenthümlichkeit zu erheben. Sie haben sich nur getrennt, weil jede für sich etwas besitzt, wodurch sie diese allgemeine Wirkung auf eine eigne Art zu erreichen vermag und was den andern, in Vergleichung mit ihr, mangelt. So fehlt der Mahlerei die Vollendung der Form, der Bildhauerkunst die Wirkung der Farben, beiden die lebendige Bewegung, der Musik die Schilderung der Gestalten, der Dichtkunst die Anschaulichkeit und die Stärke, mit welcher die mannigfaltigen Bestandtheile, die sie in sich vereinigt, jeder einzeln für sich, erscheinen.

Der Mensch, dem es daran liegt, die Kunst mit allen Sinnen in sich aufzunehmen, muss es verstehen, sich in eine Mitte von allen zu stellen, mit dichterischem Sinn das Werk des Mahlers, mit mahlerischem Auge das Werk des Dichters zu betrachten. Der Künstler, der nicht anders als von einem einzelnen Punkt aus wirken darf, muss dennoch so das Ganze ins Auge fassen, dass er immer eigentlich dem allgemeinen Ideal der Kunst nachstrebt, nur so, wie seine besondere Gattung es bestimmt. Durch diese Bearbeitung seiner Kunst nach den Forderungen aller Kunst überhaupt erhält er sich alle Verbindungen mit ihren Schwestern – denen er sich nie unmittelbar, sondern immer nur in jenem allgemeinen Verbindungspunkte nähern darf – leise und locker. Und diese Verbindungen sind es, welche die Phantasie wirklich einzugehen versuchen soll; keine Kunst soll den Menschen ausschliesslich für sich, jede ihn zugleich für alle andren, für die Kunst überhaupt stimmen; und in jedem grossen Kunstwerk ist immer eine doppelte Eigenthümlichkeit auffallend: eine, durch die es der besondren Kunst angehört, die es schuf, und eine, durch die es einen Styl an sich trägt, der durch alle übrigen Künste hindurch eine gleiche Anwendung erlaubt und so sichtbar mit dem Gepräge dieser seiner Allgemeinheit gestempelt ist, dass er sogar einladet, diese Anwendung selbst in Gedanken zu versuchen. Wem z.B. führt nicht der Belvederische Apoll das Wandeln des zürnenden Gottes in der Ilias, wem diese Stelle des Dichters nicht das göttliche Bild in die Seele zurück?[162]

Der Künstler hat also zweierlei Ansprüche zu befriedigen, die Ansprüche der Kunst überhaupt und die der besondren, die er gewählt hat. Die erstere verlangt, dass er, ihre allgemeinen Forderungen streng im Auge, alle Mittel, die seine Kunst ihm in die Hände giebt, nur dazu anwende, diese zu befriedigen, nicht aber sie selbst einseitig glänzen zu lassen; die letztere fordert dagegen mit gleichem Recht, dass er alle Vorzüge, die sie ihm darbietet, auch in ihrem ganzen Umfange und in ihrer vollen Stärke geltend mache. Gegen die erstere Regel verstösst der Mahler, welcher dem Colorit ein verhältnisswidriges Uebergewicht über die Schönheit der Formen und die Anordnung des Ganzen erlaubt; gegen die zweite der, welcher dagegen, das Colorit vernachlässigend, die Lebhaftigkeit und Stärke verkennt, welche Farbe, Licht und Schatten seinem Werke zu geben im Stande sind. Endlich kann der Künstler, um die Aufzählung der Abwege, welche er, von diesem Standpunkt aus betrachtet, zu vermeiden hat, vollständig zu machen, auch drittens weder die Kunst überhaupt noch seine eigne besondre, sondern eine dritte, ihm fremde, einseitig begünstigen und nachahmen. So giebt es Dichter, die fast durchaus bloss musikalisch wirken, und so kennen wir Mahler, deren Figuren mehr den Bildsäulen, als der Natur gleichen.

So wie der Künstler objectiv irren kann, indem er das wahre Verhältniss zwischen der Kunst überhaupt, seiner eignen insbesondre und ihren Schwestern verfehlt, so kann er es auch subjectiv in Rücksicht auf das Verhältniss seiner Individualität, der Natur des Künstlers überhaupt und der Eigenthümlichkeit anderer Künstler. Er kann der ersteren zu viel oder zu wenig einräumen oder sie endlich ganz aufgeben und gegen eine fremde vertauschen.

Ueberall, wo er sich zu einseitig bloss auf seinen einzelnen Standpunkt beschränkt, da verfällt er ins Manierirte, sey es nun ins Manierirte der Kunst, wenn er seiner Kunst, oder ins Manierirte des Styls, wenn er seiner Individualität zu viel einräumt.

Diess sind alle möglichen Abwege, auf welche der Künstler in Rücksicht auf den allgemeinen Charakter seiner[163] Werke gerathen kann, und es war nothwendig, dieselben vorher vollständig aufzuzählen, um über das Folgende ein helleres Licht zu verbreiten. Wir kehren jetzt zu unsrem Gedicht zurück.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 161-164.
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