XVIII

In wie fern macht unser Dichter, bei seiner Verwandtschaft mit der bildenden Kunst, die besondren Vorzüge der Dichtkunst geltend?

[170] Dass der Dichter, welcher den wesentlichen Forderungen der Kunst ein Genüge thut, zugleich das Wesen der Poesie[170] in ihrem vollen Gehalte benutzt, versteht sich von selbst. Denn er hat geleistet, was die Kunst überhaupt verlangt, und keine andren Mittel gehabt, als welche seine besondre ihm darbot. In so fern bedürfte daher die aufgeworfene Frage keiner weitern Erörterung.

Allein das Wesen der Dichtkunst bietet demjenigen, der es ganz zu benutzen versteht, noch so reiche und eigenthümliche Hülfsquellen dar, dass, um das Verdienst des Dichters vollkommen zu schätzen, es nicht möglich ist, dieselben mit Stillschweigen zu übergehen.

Wir reden jetzt nicht von dem Gehalte, welchen er den Gestalten unterlegen kann, die er gleichsam von der bildenden Kunst entlehnt; wir bleiben noch für jetzt allein bei dem Vorzug der Objectivität stehen, welchen er sich in einem bei weitem vollkommneren Grade, als jeder andre Künstler zu verschaffen im Stande ist.

Die Bildhauerkunst besitzt bloss Formen, die Mahlerei nur diese und Colorit; beiden fehlt unmittelbare Bewegung, die sie nie anders, als durch eine Art der Täuschung hervorbringen können. Beide stellen also nur im Raum einen Gegenstand dar, haben nur Objectivität für die Sinne, die im Raume wirken. Durch die Macht, mit der die blosse Form hervortritt, erhält die Sculptur eine Einfachheit, die an Armuth zu gränzen scheint, und selbst der Mahler ist nur auf die Vorstellung gewisser Gegenstände und selbst noch in der Darstellung dieser beschränkt.

Der Dichtkunst ist die Bewegung so eigenthümlich, dass sie eigentlich keinen Ausdruck für das Stillstehende hat. Nur dadurch, dass sie das Auge die Umrisse der Figur durchlaufen lässt, kann sie eine Gestalt zeichnen. Diess aber prägt dieselben der Einbildungskraft nur um so fester ein, da der Dichter sie nun vor ihr selbst erzeugt, sie im eigentlichsten Verstande nöthigt, sie selbst zu beschreiben. Sie wirkt ganz in der Zeit, greift dadurch tiefer, als die immer kältere bildende Kunst in unsre Empfindung ein und beseelt ihre Schilderungen mit einem volleren Leben. Ihre Gemählde sind nicht bloss Gruppen, in denen sich Gestalt an Gestalt anschliesst; sie gleichen auch vollkommen gegliederten[171] Ketten, in welchen Bewegung aus Bewegung, Figur aus Figur entspringt.

Der Dichter vermag die Gestalt nur eben so uneigentlich, als der bildende Künstler die Bewegung zu schildern. Aber der wichtige Unterschied zwischen beiden ist der, dass die Bewegung eine grössere Lebhaftigkeit mit sich führt, dass sie daher die Einbildungskraft besser stimmt, jenem Mangel aus eignem Vermögen abzuhelfen. Benutzt also der Dichter seinen ganzen Vortheil, so erlangt er eine grössere Objectivität, als dem bildenden Künstler möglich ist. Denn er bemeistert sich mehr aller Organe, durch die wir einen Gegenstand erfassen, derer, die im Raum, und derer, die in der Zeit wirken.

Es ist nicht bloss, dass er Gestalten schildert und Handlungen beschreibt. Sein Schildern der Gestalt ist selbst eine Handlung, und seine Handlung wird zur Gestalt. Denn jeder vorige Zug, den ein nachfolgender verdrängt, bleibt doch in der ganzen Gruppe stehen. Wir sehen nun wirklich vor uns, was wir bei dem Gemählde immer nur unvollkommen hinzudenken, wie nemlich der vorgestellte Moment entstanden ist und wohin er übergeht.

Selbst die grosse sinnliche Realität, welche die bildende Kunst durch das wirkliche Aufstellen des Objectes besitzt, schadet ihr in Absicht auf diese Totalität. Denn diese lebendige Sinnlichkeit schlägt nun alles nieder, was die Einbildungskraft ihr noch hinzu setzen möchte.

Wie in jedem Verstande dichterisch nun die Objectivität ist, welche in Herrmann und Dorothea herrscht, bedarf nicht erst eines eignen Beweises. Nirgends ist blosse Beschreibung des Ruhenden, überall Schilderung des Fortschreitenden; nirgends ein abgetrenntes, einzeln dastehendes Bild, überall eine Reihe von Veränderungen, in welcher jede einzelne immer klar und geschieden umgränzt ist; und das Ganze selbst gleicht so wenig dem Gemählde eines bloss leidenden Zustandes, dass es vielmehr überall als das Zusammenwirken einer Menge von Entschlüssen, Gesinnungen und Ereignissen erscheint.[172]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 170-173.
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