XX

Dritte und letzte Stufe der Objectivität des Gedichts

[175] Wenn man dasjenige, was wir bisher über das Göthische Gedicht gesagt haben, mit dem Eindruck vergleicht, welchen es selbst hervorbringt; so muss man nothwendig fühlen, wie weit noch unser Begriff hinter dem letzteren zurückgeblieben ist, wie viel noch daran fehlt, dass die Zeichnung seines Charakters die wirkliche Empfindung auch nur einigermassen erreiche. Gerade aber weil seine hohe Schönheit darin besteht, dass es seine grosse und allgemeine Wirkung in der strengsten Individualität hervorbringt, ist die Beurtheilung desselben so schwierig. Wie bei der Schilderung eines lebendigen und organischen Wesens wird man bei jedem Charakterzug, den man ihm beilegt, immer lebhaft daran erinnert, dass man es nie vollständig und richtig zeichnet, sobald man nicht das Ganze in der nothwendigen und unzertrennlichen Verbindung aller seiner Theile hinzustellen vermag.

Wir haben im Vorigen seine hohe Objectivität zu schildern[175] angefangen; wir haben gezeigt, wie es bloss sinnliche Gegenstände und diese in ihren vollständigen Umrissen, in den reinen Formen der Einbildungskraft zeichnet. Allein wenn es uns auch vollkommen gelungen wäre, dadurch zu beweisen, dass es, von einem reineren und allgemeineren Kunstsinn, als andre beseelt, sich näher, als sie an die Werke der bildenden Kunst anschliesst; so sind dadurch noch kaum die äussersten Linien des Charakters desselben gezeichnet; so ist es noch immer zu wenig aus der Masse beschreibender Gedichte herausgehoben, und so reicht diess noch bei weitem nicht hin, seine eigenthümliche Wirkung, die lichtvolle Klarheit, zu der es die Phantasie, die energische Ruhe, zu der es das Gemüth erhebt, auch nur im Ganzen und der Gattung nach zu erklären.

Die Objectivität der bildenden Künste überhaupt ist noch selbst von zu verschiedener Natur; es herrscht z.B. offenbar eine so ganz andre in den einfachen Werken der Bildhauerkunst und vorzüglich in einigen der Mahlerei, dass die allgemeine Verwandtschaft des Styls eines Gedichts mit dem Styl der bildenden Kunst diese feinen Unterschiede noch bei weitem nicht bestimmt genug angiebt.

Wo der höchste Grad der Objectivität erreicht ist, da steht schlechterdings nur Ein Gegenstand vor der Einbildungskraft da; wie viele sie auch derselben unterscheiden möchte, so vereinigt sie sie doch immer nur in Ein Bild; da ist der Stoff bis auf seine kleinsten Theile besiegt; da ist alles Form und durch das Ganze hin nur Ein und eben dieselbe. Gleich deutlich kündigt sich diese hohe Treflichkeit durch den Eindruck an, den sie zurücklässt. Wir fühlen uns von einer Klarheit umgeben, von der wir sonst keinen Begriff haben; wir empfinden eine Ruhe, die nichts zu stören vermag, weil wir alles, wofür wir nur irgend Sinn haben, in diesem Einen Gegenstande und dort in vollkommener Harmonie antreffen; alle Kräfte unsres Gemüths gehören der Phantasie und diese ausschliessend der Einen reinen, hohen und idealischen Form an, die aus einem solchen Kunstwerke uns entgegenstralt.

Am deutlichsten sehen wir diess bei den Werken der[176] Sculptur. Wenn die Hand des Bildners den Marmor bearbeitet, so verschlingt der kleine Fleck, auf welchem sein Meissel geschäftig ist, zugleich seine ganze Aufmerksamkeit. Wochen, Monate und Jahre halten ihn diese engen Gränzen gefangen; immer das Bild, das er darstellen will, vor Augen, findet er in ihnen eine Welt, welcher seine Kräfte nur mit Mühe Genüge leisten, und ruhet nicht eher, als bis er ganz und vollkommen den Gedanken seiner Einbildungskraft dem rohen Stein abgewonnen hat.

Der reicheren Mannigfaltigkeit, des weiteren Umfangs der lebendigen Bewegung endlich, die seine Kunst ihm darbietet, ungeachtet, ist der Dichter eines gleich bildenden Sinns, sein Werk einer gleich hohen Objectivität fähig. Wo er nun einen solchen Sinn besitzt, da ist es ihm nicht genug, bloss sinnliche Gegenstände, bloss reine Formen überhaupt aufzustellen, da strebt er immer, die Einbildungskraft auf ein einziges Object zu heften, nur für dieses zu interessiren, auf diess allein alles andere zurückzuführen. Sein Charakter besteht dann ganz eigentlich darin, nur in der vollendeten Darstellung dieses Einen Gegenstandes seine volle Befriedigung zu finden.

Die Einbildungskraft entschieden zu nöthigen, auf eine bestimmte Weise thätig und productiv zu seyn, ist zugleich seine einfachste Aufgabe und sein höchstes Ziel. Um dieser Forderung Genüge zu leisten, muss er derselben drei mit einander verwandte Eigenschaften zugleich mittheilen: lebendige Stärke, vollkommene Freiheit und durchgängige Gesetzmässigkeit. Zu den beiden Stufen der Objectivität, die wir bis jetzt geschildert haben, sind mehr die beiden ersten Stücke erforderlich; zu der dritten aber, die wir jetzt näher betrachten, erhebt man sich nur durch das letztere, durch vollkommne und strenge Gesetzmässigkeit.

Um nun zu zeigen, dass unser Gedicht auch diese letzte und höchste Stufe der Objectivität erreicht, wollen wir es mit einer zwiefachen Gattung beschreibender Gedichte vergleichen. Wir werden dadurch noch ausserdem den Vortheil gewinnen, dass, wenn wir es bis jetzt nur als ein ächtes Kunstwerk und als ein beschreibendes Gedicht überhaupt[177] charakterisirten, wir nun auf den bestimmten Platz kommen werden, den es unter diesen letzteren sich ausschliesslich zueignet.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 175-178.
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