XXII

Homer verbindet die einzelnen Theile seiner Dichtungen fester zu einem Ganzen

[180] Der so eben geschilderte Contrast muss jedem Leser Homers und Ariosts auffallend seyn, welcher die Totalwirkung,[180] die beide Dichter auf ihn machten, in sein Gedächtniss zurückruft. Entwickelt man nun denselben genauer, so findet man den zwiefachen Charakter, den wir oben angegeben haben.

Homer verbindet eine ungeheure Menge von Gestalten in eine einzige Gruppe; Ariost fasst eine vielleicht noch grössere Anzahl, in vielfache Gruppen vertheilt, nur gleichsam in denselben Rahmen ein. Im Homer strebt alles durchaus zum Ganzen; es ist überall Einheit: Einheit der Handlung, der Charaktere, der Gesinnungen, der Empfindungen; die Verschiedenheit, die bis in ihre feinsten Züge nüancirt ist, wird immer nur als eine Stufenfolge von Bestimmungen gezeigt, die sich in sich zu einem Ganzen zusammenschliesst. Ariost kann eben so wenig der Einheit, als Homer des Reichthums und der Mannigfaltigkeit entbehren; es ist einmal ohne beides keine dichterische Wirkung möglich. Aber nicht diese Einheit, sondern nur die Mannigfaltigkeit wirken zu lassen, ist ihm wichtig. Das Auge soll von Gestalten zu Gestalten umherschweifen und ihre Zahl nie übersehen; die Fläche, auf der sie auftreten, soll sich immerfort, aber nur da, wo es ihm jedesmal einen Augenblick zu verweilen gefällt, nicht gerade vom Mittelpunkt aus und nach allen Seiten hin ins Unendliche erweitern; die Verschiedenheit soll, selbst da, wo wirklich alle einzelnen Glieder zusammen verbunden ein Ganzes ausmachen würden, doch nur als Contrast erscheinen. Denn wenn auch, wie vielleicht nicht schwer zu erweisen wäre, die Helden Ariosts eben so als die Helden Homers alle Hauptseiten des menschlichen Charakters vollständig darstellten, so würde man dennoch immer nur in diesen den Reichthum der Menschheit, in jenen bloss die Verschiedenheit der Menschen zu sehen glauben.

Gerade aber dann ist ein Charakterunterschied unter zwei Künstlern derselben Gattung ächt und fehlerfrei, wenn beide, wie hier, denselben Reichthum besitzen und ihn nur auf verschiedene Weise geltend machen, ihn zu verschiedenem Gebrauch und unter verschiedenem Stempel ausprägen.[181]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 180-182.
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