XXV

Homer ist mehr naiv, Ariost mehr sentimental – Resultat des ganzen Unterschiedes

[186] Dass Ariost auch einzelnen Zügen seiner Schilderungen eine vom Ganzen unabhängige Wichtigkeit einräumt, und dass er den Ton seines Gesanges vor der Form seines Stoffs vorwalten lässt, diess beides kommt darin zusammen, dass er, weniger ausschliessend mit seinem Gegenstande beschäftigt, öfter in sich selbst zurückblickt. Statt die Wirkung auf das Herz und das Gemüth seiner Zuhörer allein am Ende dem Ganzen seines Gemähldes zu überlassen, wendet er sich selbst, noch während seines Laufes, immerfort zu ihnen hin und hat mehr den Effect, den er auf sie macht, als seinen Stoff vor Augen. Daher ist es auch seinem Leser in den meisten Fällen beinah gleichgültig, welche Gestalt, welche Reihe von Begebenheiten er ihm vorführt, sobald nur überhaupt dasselbe Leben und dieselbe Bewegung bleibt und im Einzelnen die Nüance des Tons folgt, welche sich an die vorige am leichtesten und natürlichsten anschliesst.

Wir finden daher hier den allgemeinen Unterschied alter und neuer Dichtkunst wieder; aus Homer blickt eine naivere, aus Ariost eine mehr sentimentale Natur hervor. Dennoch wird die Verschiedenheit beider Dichter durch diess Merkmahl allein nicht erschöpft. Auch in der völlig objectiven Gattung beschreibender Gedichte ist noch die unmittelbare Beziehung des Stoffs auf das Gemüth möglich, die sehr gut mit dem Namen der Sentimentalität bezeichnet wird. Was also diese Verschiedenheit begründet, ist allein die höhere Objectivität.

Der Dichter fasst einen Gegenstand auf; von ihm geht seine Begeisterung aus; er ist allein mit demselben beschäftigt, er strebt nach nichts andrem, als ihn so zu zeichnen, wie er in der Natur wirklich ist oder wie er seyn müsste, wenn er zu ihr gehörte; er kann nicht aufhören, bis derselbe vollendet ist, und ist fertig, sobald er den letzten Pinselstrich daran gethan hat. Sein Zuhörer hat, wie er, seine Blicke nur fest auf denselben geheftet; er interessirt sich nur[186] langsam und nach und nach für ihn; aber mit jedem Augenblick steigt die Wärme, mit der er ihn umfasst, bis sie zuletzt zu der höchsten Innigkeit anwächst; er glaubt bloss ausser sich und in ihm zu leben und bemerkt erst zuletzt mit frohem Erstaunen, dass indess und durch ihn in ihm selbst eine mächtige Veränderung vorgegangen, sein Gemüth bis in sein Innerstes erschüttert, erhöht und idealisch umgestimmt ist. Oder der Dichter fühlt seine Phantasie in unruhiger Bewegung; seine Begeisterung geht von dieser Regung aus; er sucht und schaft sich einen Gegenstand; indem er ihn ausbildet, folgt er dem Gange dieser innern Stimmung; er kann nicht aufhören, er muss Stoff aus Stoff erzeugen, so lange diese fortdauert, und er kann nicht fortfahren, sobald sie ihn verlassen hat. Sein Zuhörer ist von derselben Begeisterung mit fortgerissen; er ist überhaupt von einem rascheren und gleich anfangs lebendigeren Feuer beseelt; diese Regung aber kann nicht durch die Folge hindurch immer steigend wachsen, sie muss sich in einem mannigfaltig wechselnden Tanze fortbewegen und endlich nach und nach aufhören; das Ende dieser Laufbahn kann nicht mit einer so tiefen und überraschenden Rührung bezeichnet seyn, da das Gemüth nicht so plötzlich in sich zurückkehrt, vielmehr immer von innen heraus auf die Welt übergegangen ist.

Mit der höheren Objectivität ist eine strengere Gesetzmässigkeit verbunden. Der Dichter, welcher sich bloss an den Gegenstand hält, hat ein Geschäft zu vollenden; der, welcher nur seiner innern Stimmung folgt, bloss ein Spiel zu durchlaufen. Dieser wird durch eine innere, gleichsam unwillkührliche Nothwendigkeit bestimmt; jener muss seinen Stoff so anordnen und behandeln, als hätte ihn der blosse Verstand und die kalte Ueberlegung geformt. Diess aber kann nicht anders, als durch dasselbe Genie geschehen, das ihn erzeugt, und so muss seiner Einbildungskraft diese Gesetzmässigkeit, durch welche sie ihren Idealen die vollkommenste Natur-Aehnlichkeit giebt, so ursprünglich einverleibt seyn, dass alle ihre Geburten sie von selbst und unmittelbar an sich tragen. Durch diese strenge Gesetzmässigkeit[187] nun wird der letztere endlich tiefer und wohlthätiger auf das Gemüth und die Gesinnungen, so wie der erstere durch seine heitre und anmuthige Leichtigkeit auf die Stimmung und das Temperament einwirken.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 186-188.
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