XXVII

Zu welcher jener beiden Gattungen unser Dichter gehört? beweist er durch die Zeichnung seiner Figuren

[188] Es bedarf nicht erst eines Beweises, welchen von diesen beiden Charakteren Herrmann und Dorothea an sich trägt.

Der Dichter hat es nie mit etwas andrem, als mit seinem Gegenstande zu thun; sein Gang ist lebendig und kräftig, aber ruhig, gleichförmig und von immer schnellerer steigender Bewegung gegen das Ende des Gedichts; der Leser lebt allein in der Begebenheit, die er vor sich sieht, er ist, wie der Dichter, klar und gleichförmig gestimmt, aber zuletzt tief gerührt und von den höchsten Gefühlen durchdrungen. Nicht seine Sinne, nicht seine Leidenschaften sind rege; aber sein Sinn ist beschäftigt, sein Gemüth still bewegt; er fühlt nicht sowohl das rasche Feuer, welches sonst die Phantasie anfacht, als er sich vielmehr der lebendigen Klarheit bewusst ist, womit ein reiner und tiefer Blick in das Leben und[188] die Menschheit die Seele erhellt. Seine Einbildungskraft hat durchaus frei und allein, mit aller ihrer schöpferischen Kraft und an einem Gegenstande, also bildend gewirkt.

Davon überzeugt man sich vorzüglich dann, wann man die Mittel genauer untersucht, durch welche der Dichter seine Gestalten dem Leser in die Seele prägt. Wir haben schon im Vorigen an einem Beispiel gesehn, dass er sie nicht ängstlich beschreibt, sondern nur ihre Umrisse zeichnet; aber selbst das thut er nur selten, nur da, wo die Veranlassung ihn schlechterdings dazu nöthigt. Er kennt ein andres, tiefer eingreifendes Mittel sie aufzuführen und wichtig zu machen; die Kunst nemlich, sie durch den Grund herauszuheben, auf dem sie auftreten, die Einbildungskraft durch die gehörige Stimmung zu nöthigen, sie von selbst und in der Grösse zu erzeugen, die er ihnen mittheilen will.

Dadurch erhält er ihre Umrisse, ohne ihrer Bestimmtheit zu schaden, dennoch immer gränzenlos und unendlich: sie wachsen in der That immerfort vor der Phantasie, so wie allmählig die eigne Stimmung derselben fortschreitend erhöht wird; das Ganze knüpft sich fester zusammen, wenn immer ein Theil den andren und nicht jedesmal der Dichter jeden besonders zu bilden scheint; und die ganze Wirkung wird um so viel dichterischer und künstlerischer, als sie reiner und selbstthätiger bloss durch die Einbildungskraft vollendet wird.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 188-189.
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