XXVIII

Vergleichung unsers Dichters mit Homer in diesem Stück – Beispiel an Glaukus und Diomedes Waffentausch

[189] Dieselbe Eigenthümlichkeit epischer Schilderung finden wir auch im Homer und überhaupt in den Alten wieder. Wenn die neueren Dichter alles einzeln ausmahlen, wenn sie oft kleine und einzeln interessirende Züge auswählen, wenn man bei ihnen überall Beschreibungen männlicher und weiblicher Schönheit findet; so sind diese jenen durchaus fremd. Aber dagegen verstehen sie ihren Figuren eine andere Grösse, eine andre Würde und wahrhaft kolossalische[189] Umrisse durch die Art zu geben, wie sie dieselben erscheinen lassen und wie sie durch diess Erscheinen auf die Einbildungskraft einwirken.

Welche einzelne Scene man etwa aus der Iliade und Odyssee herausheben mag, so findet man diese Bemerkung bestätigt. Man nehme z.B. Glaukus und Diomedes Waffentausch. Auf welchem Boden treten schon diese beiden Figuren auf, von welchen Gegenständen sind sie umgeben! Ein mit Kämpfern angefülltes Schlachtfeld, das wechselnde Glück beider Nationen, der zwiefache Antheil der Götter an dem Aus gang des Kampfs, das Schicksal Trojas, dessen künftiger Untergang durch die ganze Anlage des Gedichts vorherverkündigt und auch in diesem einzelnen Stück, in dem Contrast der Charaktere des edleren, sanfteren, beinahe schwermüthigen Lyciers und des wilderen und rauheren Argivers, und in dem Ton ihrer Reden unverkennbar gezeichnet ist. Dann diese Charaktere selbst, ächte und reine Heldennaturen, stolz und tapfer, sogar wild und grausam, aber einfach, fest in einmal geschlossenen Verbindungen, voll Ehrfurcht für ihre Väter, für die Gastfreundschaft und die Götter, welche dieselbe beschützen.

Wie sie die Verbindungen ihrer Väter erzählen, ist man plötzlich in alle ihre Empfindungen versetzt, weil diese Empfindungen insgesammt nur rein menschliche sind; man fühlt den muthigen Stolz des Jünglings, den sein Vater ermahnt hat, seines Heldengeschlechts nicht unwürdig zu seyn; man theilt gern Diomedes Ehrfurcht für die Gastgeschenke, die seine Ahnherren ihm hinterlassen haben, und für das Andenken eines Vaters, den sein Heldenruf ihm, noch eh' er ihn kannte, schon entriss. Bei der Geschichte der beiden Stämme thut man einen tiefen Blick in das Loos der Sterblichen und die Macht des Schicksals; Prötus leichtgläubiger Argwohn, Bellerophons menschenscheue Schwermuth, Tydeus und der Sieben Untergang vor Theben!

Von allen diesen Bildern auf einmal gerührt, wer begleitet sie nicht da, wenn sie nun, nach Handschlag und Waffentausch, sich wieder in das Getümmel der Schlacht versenken, mit wehmüthiger Rührung? wer ist nicht von dem[190] tiefen Gefühl für die Grösse und den Edelmuth, aber zugleich für die Ohnmacht und Verblendung des Menschen durchdrungen, durch die er nur als ein leichtes Spielwerk in der Hand des übermächtigen Schicksals erscheint! – Welche Farben aber leiht diese Stimmung, in welches ehrwürdige Halbdunkel hüllt sie die beiden Figuren, die der Dichter bloss dadurch zu zeichnen verstand, dass er sie auf das Gemüth einwirken liess, noch ehe er sie eigentlich hingestellt hatte!

Unser Dichter hat keinen so grossen und glänzenden Schauplatz, keine so reiche Anzahl von Nebenfiguren, durch welche die Hauptfiguren von selbst hervortreten, keine Helden und Heldengeschlechter, welche die Phantasie von selbst, und ohne dass es dazu nur eines Winkes bedarf, in die Vergangenheit zurückführen; unbekannt und von Unbekannten abstammend, müssen die Personen, die er uns zeigt, allein durch sich selbst gelten. Wie hat er es nun angefangen, um ihnen den Adel und die Grösse zu geben, ohne welche keine tiefe dichterische Wirkung möglich ist?

Der glückliche Sänger der Vorzeit konnte vor den Sinnen und der Einbildungskraft einen reichgestickten, farbigen Teppich voll der mannigfaltigsten Gestalten in üppigem Reichthum abrollen; er, welcher durch seine Zeit, seine Sprache und seinen Stoff dieses Vorzugs entbehrte, musste seine Mittel mehr in dem Innern des Gemüths und der Stimmung desselben aufsuchen: was jener in der Natur und der Welt fand, musste dieser unmittelbar in den Menschen legen.

Wo also die Figur auftritt, sie mit dem hohen Styl zu zeichnen, der die Seele zugleich erstaunt und fesselt; sie mit entschiednen und kräftigen Zügen, ohne dass eine Absicht errathen werden kann, auf den Vordergrund des Ganzen hinzustellen; den Leser durch auffallende Wirkungen, die sie hervorgebracht hat, wie durch ein Licht, das, von ihr ausstralend, ihr Daseyn, noch ehe sie selbst erscheint, schon verkündigt, auf sie vorzubereiten; sie selbst selten zu zeigen und doch sogar abwesend ihre Gegenwart immer und ununterbrochen wirksam zu erhalten; ihr Bild dadurch immer[191] wachsen zu lassen, dass die Höhe des Tons und der Stimmung im Ganzen zunimmt; und sie überhaupt immer mehr in dem Widerschein ihres Wesens, als unmittelbar in diesem selbst zu zeigen – war alles, was ihm unter diesen Umständen übrig blieb, und diess hat er so treflich zu benutzen verstanden, dass sich der Leser nun dennoch der ganzen und vollen Wirkung erfreut.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 189-192.
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