XXX

Erste Einführung Dorotheens durch Herrmanns Erzählung von ihr

[193] Was diesem ganzen Göthischen Gedicht eine so grosse Objectivität giebt und es so sehr der Gattung von Gedichten aneignet, von der wir hier reden, ist der feste und sichere Grund, welcher dem Ganzen, so wie jedem einzelnen Theile, jeder Handlung und jeder Schilderung, wenn die Metapher erlaubt scheint, gleichsam untergebaut ist. Wie der Werkmeister der Natur den feinsten und sprechendsten Zügen der menschlichen Gestalt einen festen und bestimmten Gliederbau unterlegt und die Festigkeit und Stärke, die daraus hervorgeht, zu einem Hauptelemente der Schönheit macht, so bereitet sein Schüler, der Dichter, der Einbildungskraft einen sichern und unerschütterlichen Boden, von welchem aus sie, zuversichtlich auftretend, einen kühnen Aufflug nehmen kann. Nicht also bloss in der Anlage des Ganzen sind alle Theile fest zusammengefügt, sondern auch bei einzelnen Schilderungen, vorzüglich bei der Zeichnung der Charaktere, sind gerade solche Elemente ausgewählt, welche dem Ganzen Haltung, Kraft und Sicherheit geben.

Fast nirgends fällt diess so lebhaft ins Auge, als bei dem ersten Erscheinen Dorotheens. (S. 29.) Ihr Bild ist da mit so sichrer Meisterhand hingestellt, dass es in dem Gemüthe, wie festgewurzelt, haftet.


Als ich nun meines Weges die neue Strasse hinanfuhr,

Fiel mir ein Wagen ins Auge, von tüchtigen Bäumen gefüget,

Von zwei Ochsen gezogen, den grössten und stärksten des Auslands;[193]

Nebenher aber ging mit starken Schritten ein Mädchen,

Lenkte mit langem Stabe die beiden gewaltigen Thiere,

Trieb sie an und hielt sie zurück, sie leitete klüglich.


Man glaubt eine der hohen Gestalten zu sehen, die man bisweilen auf den Werken der Alten, auf geschnittenen Steinen erblickt. Man fühlt sich betroffen und hält inne; man begreift nicht, wodurch und womit diess gemacht ist. Der Dichter hat bloss die einfache Handlung erzählt; aber man kann sich nicht enthalten, dieser Erscheinung noch einen Augenblick zuzusehen. Sie steht zu auffallend da.

Von der Erzählung im vorigen Gesänge (S. 13.) her ist der Leser noch von dem Zuge der Ausgewanderten erfüllt; er sieht noch das verwirrte Durcheinandertreiben, die unbesonnene Eile, die gegen fremdes Unglück gleichgültige Selbstsucht vor Augen. Aus dieser ungeschiedenen Menge sondert sich nun eine einzelne Gruppe ab: ein Wagen ist zurückgeblieben, indess die übrigen schon in der Entfernung vorauseilen; eine Wöchnerin, von Ochsen gezogen, die ein Mädchen lenkt. Diess Mädchen tritt allein einzeln auf, sie allein ruhig, besonnen, hülfreich; nun muss alles, die Stärke des festgefügten Wagens, die gewaltige Grösse der Thiere, selbst das verwirrte Gedränge des Zuges ihr Bild zu vergrössern beitragen. Es ist schon so idealisch geworden, die Phantasie ist schon so willig, es in ganz fremde Regionen zu versetzen, dass wir vergessen, dass der lange lenkende Stab nicht mehr Sitte unserer Zeit ist.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 193-194.
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