XXXIV

Erzählung des heroischen Muths der Jungfrau – Ob der Dichter gut that, gerade diesen Zug aus ihrem Leben herauszuheben?

[202] Zwar ist es gerade hier, wo die Heldin unsres Gedichts am meisten heroisch erscheint, wo wir durch die Erzählung des Richters ihrer Gemeine die kühne Entschlossenheit erfahren, mit der sie sich und ihre Gespielinnen gegen die Wildheit zügelloser Krieger vertheidigte.

Allein wenn diese Stelle dazu bestimmt wäre, das Bild, das wir uns schon bis dahin von ihrem Muth und ihrer Stärke gemacht haben, noch beträchtlich zu vergrössern, so hätte sich der Dichter in seiner Berechnung betrogen. Er hat sie uns auf eine ganz andre, bei weitem sinnlichere und poetischere Weise in die Einbildungskraft einzuprägen verstanden, als dass eine einzelne Handlung, und die wir überdiess nur aus dem Munde eines Dritten vernehmen, dazu noch viel hinzuzusetzen im Stande wäre.

Dennoch ist dieser Zug auf keine Weise müssig. Es musste etwas da seyn, wodurch Dorothea auch ganz und allein für sich aus der Masse der übrigen Figuren herausgehoben wurde; wir mussten sie vor der Haupthandlung des Gedichts, vor ihrer Auswanderung, handeln und wirken sehen. Ihre Vereinigung mit Herrmann hätte nicht das Leben, die Festigkeit und Schönheit vor der Phantasie gewinnen können, wenn man nur Eine, nicht beide Figuren auch vorher und einzeln gesehen hätte; es hätte nur Herrmann, nicht Herrmann und Dorothea heissen dürfen. Es sind zwei verschiedene Elemente, zwei verschiedene Menschengattungen, zwei eigne Welten, die mit einander in Verbindung treten sollen: die, in der Herrmann, und die, in der Dorothea einheimisch ist. Uns in die letztere zu versetzen, dienen alle Scenen unter der Gemeine; und da Dorothea in diesen die Hauptrolle spielt, so musste auch ihr in derselben etwas[202] eigenthümlich und besonders angehören. Dazu hat der Dichter hauptsächlich drei Züge gewählt, von denen der eine ihren Muth, der andre, die Pflege ihres alten Verwandten, ihre hülfreiche Güte zeigt, und der dritte, ihre frühere Verlobung mit dem unglücklichen Beschützer der Freiheit, sie an höhere Ideen, eine andere Cultur und wichtigere Begebenheiten anschliesst und sie uns nun auch noch durch ein eignes schwärmerisches Interesse, das sie uns einflösst, wichtiger macht.

So unläugbar es indess auch nothwendig war, Dorotheen durch einen eigenthümlichen Zug hier herauszuheben, so ist es doch eine andere Frage, ob der Dichter hierin den rechten gewählt hat? Wenigstens müssen wir offenherzig gestehen, dass, so oft wir noch diese Stelle (S. 137.) lasen, sie uns jedesmal den gleichförmigen Strom zu unterbrechen schien, in dem sonst das ganze übrige Gedicht hinfliesst. Es ist nicht, dass diese Handlung, auch ausserdem dass sie in den Begebenheiten unsrer Zeit wirklich gewesen ist, nicht auch die vollkommenste poetische Wahrheit hätte; nicht dass eine falsche und dem Geiste dieses Gedichts ganz und gar zuwiderlaufende Delicatesse das Blutvergiessen durch die Hand eines Mädchens unerträglich machte. Aber jener Eindruck ist einmal nicht wegzuläugnen; es haben ihn mehrere Leser erfahren und er scheint daher nicht bloss subjectiv zu seyn. Vielleicht lässt er sich durch folgende zwei Gründe wenigstens bis auf einen gewissen Grad erklären.

1., Die Einbildungskraft kann nicht anders, als sich das Bild der Handlung vorstellen wollen, in der die Jungfrau gezeigt wird. Sie muss sie, den Säbel in der Hand, die Feinde vertreibend, vor sich hinzeichnen. Zu diesem Bilde aber von demjenigen, das sie bisher von ihr gehabt hat, überzugehen und von da aus zu diesem zurückzukehren, macht ihr Mühe; sie findet etwas Grelles, einen Sprung darin. Und wenn diess wirklich der Fall ist, so hat auch der Dichter gefehlt. Denn die dichterische und vorzüglich die epische Wirkung beruhet gerade darauf, dass man in allen verschiednen Lagen und Stellungen derselben Figur immer sie selbst klar wiedererkennt, dass es wirklich nur dieselbe Gestalt[203] ist, die sich bloss verschiedentlich bewegt, und dass die Einbildungskraft mit vollkommen ungehinderter Leichtigkeit immer von jeder auf alle übergehen kann. Dadurch allein erlangt sie wahrhaft unendliche Umrisse, verbindet sie alles Wechselnde und Mannigfaltige in Ein Bild, dass sie, sich immer im Mittelpunkte erhaltend, von da aus diese Uebergänge wirklich versucht und überall zwar bestimmt, aber leise, überall fest, aber mit schon wieder weiter gleitendem Fusse auftritt.

2., Der weibliche Heroismus ist überhaupt und besonders in unserer Zeit schwer und zart zu behandeln. Zwar wäre es vielleicht möglich, auch noch jetzt eigentliche Amazonencharaktere mit dennoch rein bewahrter Weiblichkeit zu zeichnen; aber zu diesen gehört Dorothea nicht. Dorothea kann einen Mord, selbst den eines übermüthigen Feindes, nie im mindesten aus freiem Entschluss, immer nur durch die äusserste Noth getrieben, begehen, und diess springt zu klar und auffallend in die Augen. Handlungen aber, die nur die Noth bewirkt, in denen mehr der Drang der Umstände, als die Energie des Charakters das thätige Motiv ist, sind sehr wenig zu einer poetischen Behandlung tauglich.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 202-204.
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