XXXIX

Die Verbindung reiner Objectivität mit einfacher Wahrheit macht diess Gedicht den Werken der Alten ähnlich

[214] Die vollendete Darstellung der Menschheit durch die Einbildungskraft kann nicht anders, als mit Hülfe der beiden[214] Eigenschaften gelingen, die wir bis jetzt betrachtet haben, nicht ohne einen ruhig bildenden Sinn und eine gewisse Anhänglichkeit an die einfache Wahrheit der Natur. Auf diesen beiden Stücken beruht daher vorzüglich aller Künstlerberuf.

Diese glückliche Dichteranlage nun, dieser ächte Kunstsinn, der sich, wo er selbst ist, auch auf Andre forterzeugt, war keinem Volk in so hohem Grade, als den Griechen eigenthümlich. Er ist es, der sich in ihren Werken, vorzüglich durch Totalität und Ebenmaass, äussert. Wer den Apoll betrachtet oder den Homer liest, fühlt sich, wie er auch vorher hätte gestimmt seyn mögen, zu demselben angefeuert; die Einheit seines innern Wesens in diesen Augenblicken und die Einheit des Werks, das vor seinen Augen dasteht, schmelzen gleichsam in Eins zusammen und wachsen, indem sie sich über die ganze Natur, so wie wir dieselbe alsdann ansehen, verbreiten, zu etwas Unendlichem an.

Das undurchdringliche Geheimniss der Kunst, man möchte sagen, die Technik, wodurch die Alten diese Wirkung zu Wege brachten, lässt sich freilich nicht mit Worten beschreiben; aber sie beruht doch grösstentheils auf einer dreifachen Eigenthümlichkeit ihrer Künstlermethode:

1., auf der natürlichen Zusammenfügung aller Theile zum Ganzen, in der, wie in der organischen Schöpfung selbst, jeder aus dem andern frei und doch nothwendig hervorgeht;

2., auf der Grösse und Reinheit der Elemente, aus welchen sie ihre Formen zusammensetzten; und endlich

3., auf einer gewissen kühnen Manier, mit der sie nie kleinlich und ängstlich dem Auge mahlten, sondern vielmehr die Phantasie nur mit Begeisterung und Kraft ausrüsteten, den bloss angelegten Umriss selbst zu vollenden.

Die Einbildungskraft war so mächtig in ihnen, so mit ihrer ganzen Natur in Eins verschmolzen, dass, wenn sie sich bei uns so oft durch die Heftigkeit der Begeisterung und ein gewissermassen gewaltsames Feuer ankündigt, sie bei ihnen mit allen den Eigenschaften verschwistert war, welche den Menschen weise und ruhig durch das Leben führen, mit[215] dem streng organisirenden Verstande, dem ruhig aufnehmenden Blick und dem schönen Gleichgewicht aller Neigungen und Gemüthskräfte.

Dass dieser Geist, mehr als in irgend einem andren neueren Gedicht, in dem gegenwärtigen herrscht, haben wir im Vorigen bewiesen. Schon die Blicke, die wir bisher auf einzelne Theile desselben geworfen haben, reichen hin, die Einheit des Plans, die reine und volle Natur, die aus allen darin handelnden Charakteren und dem Geiste des Ganzen spricht, und die Festigkeit der Zeichnung, in der so oft ein einzelnes Beiwort auf einmal ein ganzes Bild zu vollenden genug ist, im Allgemeinen zu zeigen. Die sichere Kraft, die zugleich auf einem ruhig beobachtenden Sinn und einem überlegt anordnenden Verstande beruht, und die innige Wärme, die nur dann da ist, wann sich das ganze Herz gerührt fühlt, sind überall gleich sichtbar und wirksam.

Wie Homer und die Alten wirkt unser Dichter nur durch das, was er in seinem Werk wirklich ist, durch die Gestalt und das Wesen, in welchem er sich ruhig und anspruchlos vor den Zuschauer hinstellt, nicht aber wie die neueren und besonders jene oben näher betrachteten, mehr romantischen, als epischen Dichter durch das, was er in sichtbarer Beziehung auf ihn unmittelbar thut, singt und beschreibt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 214-216.
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