XXXVI

Eintritt der beiden Liebenden in das Zimmer der Eltern – Dorotheens Benehmen bis zum Schlüsse des Gedichts – Anruf der Muse

[207] So wie in dem letzten Augenblick auf den Stufen des Weinbergs das Dunkel der Nacht die beiden Liebenden umgiebt, so liegt auch über ihren Gefühlen selbst eine dumpfe Schwermuth verbreitet. Der Moment, in welchem sie, der eigentlichen Entwicklung zueilend, in das Haus der Eltern treten, muss sie in lichtvoller Klarheit zeigen; und dieser kommt nun heran.

Eine solche Klarheit plötzlich um sie zu giessen, macht der Dichter eine Pause und ändert den Ton seines Gesanges. Dass der Eindruck jener letzten Situation nicht zu drückend werde, dass er nicht aus dem Gebiete der Kunst und der[207] Einbildungskraft herausgehe, ruft er die Musen, diese Wesen der Phantasie, an; und der Stärke gewiss, mit der er sich des Zuhörers bemächtigt hat, scheut er sich nicht, ihn selbst daran zu erinnern, dass es nicht Wahrheit, sondern nur ein Spielwerk der Kunst ist, was er ihm zeigt. Hierauf lässt er ein Gespräch im Hause der Eltern folgen und setzt an das Ende desselben eine herrliche Stelle über den Werth und die Fülle des Lebens in der Natur – den Ausdruck der schönen und menschlichen Gesinnung, die in allen Perioden des Alters nur das aufsucht, was sie zu höherem und vollerem Wirken vereinigen, wodurch sich Leben im Leben vollenden kann.

Bei diesen Worten betritt das Paar die Schwelle. Nun drängt sich in der Einbildungskraft des Lesers auf Einmal alles zusammen, sie in lichtvoller Grösse hinzustellen; nun scheint die Thüre zu klein, die hohen Gestalten einzulassen. Zugleich aber sieht man sie so sehr für einander bestimmt und geschaffen, dass das Höchste, was der Dichter über die Bildung der Braut zu sagen weiss, nur das ist, dass sie des Bräutigams Bildung vergleichbar sey.

In dieser Einfachheit liegt in der That etwas erstaunlich Erhabenes. Statt uns durch eine andre Vergleichung von den beiden Figuren, die uns allein beschäftigen sollen, zu entfernen, drängt er uns mit Gewalt zu ihnen zurück; und indem er, wie die Natur selbst, den Mann zum Maassstabe annimmt, führt er uns gleich zu der wahrsten und einfachsten Ansicht der Menschheit und entfernt jede kleinliche Vorstellung, welche eine verzärtelte Cultur uns so oft über das Verhältniss beider Geschlechter zu einander einflösst.

Aber weniger gross und erhaben durfte er uns auch Dorotheen nicht darstellen, wenn der letzte Theil der Begebenheit, welcher das ganze Gedicht beschliesst, seine volle Wirkung ausüben, wenn neben dem Adel und der Grösse der Gesinnungen, welche Dorothea ausspricht, und bei der erschütternden Naturscene, die uns der Dichter zugleich schildert, dem rollenden Donner, den herabschlagenden Regengüssen, dem sausenden Sturm, nicht das Mädchen selbst und seine Gestalt vor unsrer Einbildungskraft verschwinden sollte.[208]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 207-209.
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