Abschnitt I.

[56] Der grosse Vortheil, den die mathematischen Wissenschaften über die moralischen haben, ist, dass die Vorstellungen der ersten wahrnehmbar und deshalb immer klar und deutlich sind; deshalb wird der kleinste Unterschied bei ihnen sofort bemerkt, und dieselben Worte bezeichnen immer dieselben Vorstellungen, ohne Zweideutigkeit oder Schwanken. Ein Oval verwechselt man nie mit einem Kreise, und eine Hyperbel nicht mit einer Ellipse. Das gleichseitige und ungleichseitige Dreieck sind durch Grenzbestimmungen getrennt, schärfer, als die zwischen Laster und Tugend, Recht und Unrecht. Wenn ein Ausdruck in der Geometrie erklärt ist, so setzt die Seele leicht und von selbst in jedem Falle die Vorstellung an Stelle des erklärten Wortes. Und selbst da, wo man keine Erklärung anwendet, kann der Gegenstand wahrnehmbar und dadurch fest und klar erfassbar gemacht werden.

Aber die feinern Empfindungen der Seele, die Vorgänge im Denken, die mannichfachen Erregungen der Gefühle entgehn uns, trotz ihres wirklichen Unterschiedes, leicht, wenn sie innerlich betrachtet werden; auch können wir hier den ursprünglichen Gegenstand nicht herbeischaffen, wenn die Veranlassung zu seiner Betrachtung vorhanden ist. Deshalb sind solche Erörterungen nach und nach zweideutig geworden; ähnliche Gegenstände werden leicht als gleiche behandelt,[56] und die Schlüsse entfernen sich oft weit von ihren Vordersätzen.

Indess kann man dreist behaupten, dass bei genauer Betrachtung die Vortheile und Nachtheile dieser Wissenschaften sich ausgleichen und beide einander gleich stellen. Wenn die Seele die geometrischen Begriffe leichter klar und deutlich erfasst, so muss sie doch eine längere und verwickeltere Kette von Schlüssen ziehn und sehr entfernte Begriffe mit einander vergleichen, um die tiefern Wahrheiten dieser Wissenschaft zu erfassen. Wenn dagegen Moralbegriffe ohne grosse Sorgfalt dunkel und verworren bleiben, so sind doch hier die Folgerungen immer kürzer, und die Mittelsätze, welche zu jenen Schlusssätzen führen, nicht so zahlreich als in den Wissenschaften, welche die Grösse und die Zahl behandeln. In der That giebt es bei Euklid keinen noch so einfachen Lehrsatz, der nicht aus mehr Gliedern bestände, als irgend ein moralischer Satz, mit Ausnahme von Hirngespinnsten und Täuschungen. Wo man nur weniger Mittelsätze für Gewinnung der Prinzipien bedarf, kann man mit dem Fortschritt zufrieden sein, wenn man erwägt, wie bald die Natur einen Schlagbaum vor alle unsere Untersuchungen von Ursachen zieht und uns zum Anerkenntniss unserer Unwissenheit nöthigt. Das Haupthinderniss des Fortschrittes in moralischen und metaphysischen Wissenschaften liegt deshalb in der Dunkelheit der Begriffe und Zweideutigkeit der Worte. Die Hauptschwierigkeit bei der Mathematik liegt dagegen in der Länge der Folgerungen und dem Umfange der Vorstellungen, deren man zum Beweise bedarf. Unser Fortschritt in der Naturwissenschaft ist vielleicht durch den Mangel besonderer Versuche und Erscheinungen gehindert, welche meist zufällig entdeckt werden und selbst durch die emsigste und vorsichtigste Untersuchung dann nicht angetroffen werden, wenn man sie braucht. Da die moralischen Wissenschaften bisher weniger vorgeschritten sind, als Mathematik und Physik, so erhellt, dass, wenn letztere Wissenschaften in dieser Beziehung sich unterscheiden, die Schwierigkeiten, welche sich dem Fortschritt der erstern entgegenstellen, grössere Sorgfalt und Fähigkeit zu ihrer Ueberwindung forden.

Die Metaphysik hat keine dunklern und unsicherern Begriffe, wie die der Macht, der Kraft, der Wirksamkeit oder nothwendigen Verbindung, von denen man bei[57] jeder Untersuchung fortwährend Gebrauch machen muss. Ich werde deshalb in dieser Abtheilung so viel als möglich die genaue Bedeutung dieser Worte zu bestimmen suchen, um damit einen Theil der Dunkelheit zu beseitigen, über welchen man in diesem Theile der Philosophie so viel klagt.

Der Satz wird nicht bestritten werden, dass alle unsere Begriffe nur Abbilder der Eindrücke sind, oder dass, mit andern Worten, wir uns nichts vorstellen können, was wir nicht vorher innerlich oder äusserlich aufgenommen haben. Ich habe diesen Satz zu erklären und zu beweisen versucht und hoffe, dass man bei richtigem Gebrauche desselben eine grössere Deutlichkeit und Schärfe in philosophischen Untersuchen erreichen wird, als bisher möglich war. Zusammengesetzte Begriffe kann man leicht durch ihre Definition verständlich machen, indem die Bestandtheile oder einfachen Merkmale derselben aufgezählt werden. Hat man aber das Definiren bis zu den einfachsten Begriffen fortgesetzt, und bleiben dann immer noch Zweifel und Dunkelheiten, welche Mittel hat man dann? Durch welche Erfindung kann man diese letzten Begriffe erleuchten und dem geistigen Auge scharf und bestimmt darstellen? – Man suche nach den Eindrücken und ursprünglichen Empfindungen, welche diese Begriffe abbilden. Diese Eindrücke sind sämmtlich stark und fühlbar. Sie sind nicht zweideutig. Sie sind nicht allein selbst völlig hell, sondern auch im Stande, ihr Licht den entsprechenden Begriffen mitzutheilen, die in der Dunkelheit liegen. Dadurch erreicht man gleichsam ein neues Vergrösserungsglas oder optisches Instrument, welches die zartesten und einfachsten Begriffe der Moralwissenschaft so vergrössert, dass sie schnell in die Wahrnehmung fallen und dann so leicht, wie die gröbsten und sinnlichsten Vorstellungen, die unserer Untersuchung aufstossen, zu fassen sind.

Um deshalb mit dem Begriff der Macht oder nothwendigen Verknüpfung genau bekannt zu werden, muss man den ihr zu Grunde liegenden Eindruck untersuchen; und um diesen Eindruck sicher zu finden, muss man nach ihm in allen Quellen suchen, aus denen er herkommen kann.

Wenn man sich unter äussern Gegenständen umsieht und die Wirksamkeit der Ursachen betrachtet, so kann man für den einzelnen Fall niemals eine Macht oder nothwendige Verknüpfung entdecken; keine Eigenschaft zeigt sich da, welche die Wirkung an die Ursache bände und die eine zur[58] untrüglichen Folge der andere machte. Man bemerkt nur, dass das Eine thatsächlich und wirklich dem Andern folgt. Dem Stosse der einen Billardkugel folgt die Bewegung der zweiten. Dies allein nehmen die äussern Sinne wahr. Die Seele hat keine Empfindung oder innern Eindruck von dieser Folge der Gegenstände. Das einzelne Beispiel einer Ursache und Wirkung hat deshalb nichts an sich, was den Begriff von Kraft oder nothwendiger Verknüpfung darbieten könnte.

Bei dem ersten Auftreten eines Gegenstandes kann man nie die aus ihm hervorgehende Wirkung wissen. Wäre die Kraft oder Wirksamkeit einer Ursache der Seele erkennbar, so könnte man auch ohne Erfahrung die Wirkung vorhersehen und vermittelst der blossen Kraft des Denkens und Schliessens schon bei dem ersten Male sich mit Gewissheit darüber aussprechen.

Aber in Wahrheit bietet keine Thatsache in ihren wahrnehmbaren Eigenschaften eine Kraft oder Wirksamkeit, noch giebt sie einen Anhalt für das, was sie hervorbringt, oder was ihr folgt, und was man ihre Wirkung nennen kann. Undurchdringlichkeit, Ausdehnung, Bewegung, alle diese Eigenschaften sind in sich vollständig und bezeichnen kein anderes Ereigniss, was aus ihnen hervorgehen könnte. Die Erscheinungen wechseln fortwährend in der Welt, und Eines folgt dem Andern in ununterbrochener Reihe; aber die Macht oder Kraft, welche die ganze Maschine bewegt, ist uns völlig verborgen und zeigt sich in keiner wahrnehmbaren Eigenschaft der Körper. Wir wissen, dass thatsächlich die Hitze ein beständiger Begleiter der Flamme ist; was aber das Bindende zwischen bei den ist, dafür haben wir nur das weite Feld der Vermuthungen und Voraussetzungen. Der Begriff der Kraft kann deshalb von der Betrachtung der Körper in den einzelnen Fällen ihrer Wirksamkeit nicht abgeleitet werden, denn kein Körper zeigt eine Kraft, welche das Urbild zu diesem Begriff abgeben könnte.5[59]

Wenn daher die äussern Gegenstände, wie sie den Sinnen erscheinen, uns keinen Begriff von der Kraft oder nothwendigen Verknüpfung bei ihrer Wirksamkeit in dem einzelnen Falle bieten, so muss man sehen, ob dieser Begriff seinen Ursprung nicht in einer Selbstbetrachtung der Thätigkeit der eigenen Seele hat und also das Abbild eines innern Eindrucks ist. Man kann behaupten, dass man jederzeit einer innern Kraft sich bewusst ist, weil man bemerkt, dass man durch das einfache Verlangen des Willens die Glieder des Körpers bewegen und die Vermögen der Seele leiten kann. Ein einzelnes Wollen bewirkt die Bewegung in unsern Gliedern oder weckt eine neue Vorstellung in unserm Denken. Dieser Einfluss des Willens ist uns durch das Selbstbewusstsein bekannt. Davon bekommen wir den Begriff der Kraft oder der Wirksamkeit, und wir sind sicher, dass wir selbst und alle vernünftigen Wesen Kraft besitzen. Diese Vorstellung ist deshalb eine durch Selbstbetrachtung gewonnene Vorstellung; sie entspringt aus der Betrachtung der Seelenthätigkeit und des Einflusses, welchen der Wille über die Glieder des Körpers und die Vermögen der Seele ausübt.

Wir wollen diesen Satz näher untersuchen; zunächst rücksichtlich des Einflusses des Willens auf die Glieder des Körpers. Dieser Einfluss ist offenbar eine Thatsache, welche gleich allen andern natürlichen Vorgängen nur durch Erfahrung erkannt werden kann; aus keiner wahrnehmbaren Wirksamkeit oder Kraft in der Ursache kann er im Voraus entnommen werden, die sie mit ihrer Wirksamkeit verknüpte, und die eine zur untrüglichen Folge der andern machte. Die Bewegung unsers Körpers erfolgt auf den Befehl unsers Willens. Dessen sind wir uns jederzeit bewusst. Aber die Mittel, wodurch dieses geschieht, die Kraft, mittelst deren der Wille eine so ausserordentliche That vollbringt, sind dem unmittelbaren Bewusstsein so sehr entzogen, dass sie für immer sich der genauesten Nachforschung entziehn.

Denn giebt es erstens in der ganzen Natur ein geheimnissvolleres Prinzip, als die Verbindung von Seele und Leib? Eine geistige Substanz erlangt dadurch einen solchen[60] Einfluss über eine körperliche, dass der feinste Gedanke im Stande ist, den gröbsten Stoff zu bewegen. Könnten wir durch einen leisen Wunsch Berge versetzen oder die Gestirne in ihren Laufbahnen aufhalten, so wäre diese grosse Macht doch nicht ausserordentlicher und unbegreiflicher. Könnten wir durch Selbstbewusstsein eine Kraft in dem Willen bemerken, so wäre diese Kraft und ihre Verbindung mit der Wirkung bekannt; ebenso das geheime Band zwischen Leib und Seele und die Natur beider Substanzen, wodurch die eine in so vielen Fällen auf die andere einwirken kann.

Zweitens: Wir können nicht alle Theile des Körpers mit der gleichen Kraft bewegen, obgleich man, abgesehen von der Erfahrung, keinen Grund für einen so auffallenden Unterschied angeben kann. Weshalb hat der Wille Macht über die Zunge und die Finger, und nicht über das Herz und die Leber? Diese Frage würde uns nicht in Verlegenheit setzen, wenn das Bewusstsein im ersten Falle die Kraft darböte und in dem andern nicht. Wäre dies, so würde man auch ohne Erfahrung einsehn, weshalb die Macht des Willens über die Organe des Lebens in so feste Grenzen befasst ist. Man wäre dann mit der Kraft oder Macht, durch welche er wirkt, genau bekannt und würde wissen, weshalb sein Einfluss gerade nur so weit und nicht weiter reichte.

Ein Mensch, der plötzlich am Beine oder Arme gelähmt worden ist, oder der diese Glieder kürzlich verloren hat, versucht anfänglich oft, sie zu bewegen und in der gewohnten Weise zu gebrauchen. Hier ist er sich der Kraft, seine Glieder zu regen, ebenso bewusst, als Jemand in voller Gesundheit sich der Kraft, die in ihren natürlichen Zustand verbliebenen Glieder zu bewegen, bewusst ist. Aber das Bewusstsein täuscht niemals. Folglich sind wir weder in dem einen noch in dem andern Falle uns irgend einer Kraft bewusst. Nur aus der Erfahrung lernen wir den Einfluss unsers Willens kennen, und nur die Erfahrung lehrt uns, welches Ereigniss beständig einem andern folgt, aber ohne uns über die geheime Verknüpfung, die sie an einander bindet und untrennbar macht, zu belehren.

Drittens: Die Anatomie lehrt uns, dass der unmittelbare Gegenstand der Kraft bei freiwilliger Bewegung nicht das bewegte Glied selbst ist, sondern gewisse Muskeln und Nerven der Lebensgeister und vielleicht noch etwas Feineres und Unbekannteres, durch welches sich die Bewegung fortsetzt,[61] ehe sie das Glied selbst erreicht, dessen Bewegung der unmittelbare Gegenstand des Wollens ist. Giebt es einen starkem Beweis, dass die Kraft, durch welche der ganze Vorgang zu Stande kommt, anstatt durch inneres Gefühl oder Bewusstsein geradezu und voll erkannt zu sein, vielmehr im höchsten Grade geheimnissvoll und unerkennbar ist? Die Seele will einen bestimmten Erfolg; unmittelbar entsteht aber ein anderer Erfolg, der uns unbekannt und gänzlich von dem gewollten verschieden ist; dieser Erfolg bewirkt einen andern, ebenso unbekannten, bis endlich nach einer langen Reihe der verlangte Erfolg hervortritt. Hätte man die ursprüngliche Kraft wahrgenommen, so hätte man sie gekannt; dann hätte man auch die Wirkung gekannt, weil alle Kraft sich auf die Wirkung bezieht. Umgekehrt, ist die Wirkung unbekannt, so kann auch die Kraft nicht bekannt und wahrgenommen sein. Wie kann man in Wahrheit sich einer Kraft über die Glieder bewusstsein, wenn man keine solche hat, sondern nur eine solche zur Erregung gewisser Lebensgeister, welche zwar zuletzt die Bewegung des Gliedes hervorbringen, aber dabei doch in einer für uns ganz unbegreiflichen Weise wirksam sind.

Aus alledem kann man nicht voreilig, sondern mit Gewissheit schliessen, dass unser Begriff der Macht nicht das Abbild einer Empfindung oder Selbstwahrnehmung der Macht ist, wenn wir eine Bewegung unternehmen, oder unsere Glieder nach ihrer Bestimmung und Einrichtung gebrauchen. Dass deren Bewegung den Befehlen des Willens folgt, ist ein Gegenstand der gemeinen Erfahrung, wie bei andern natürlichen Vorgängen; aber die Kraft oder Wirksamkeit, wodurch dies geschieht, ist ebenso wie bei andern natürlichen Vorgängen unbekannt und unbegreiflich.6[62]

Soll man nun behaupten, dass wir uns einer Kraft oder Wirksamkeit in der Seele bewusst sind, wenn wir auf Geheiss unsers Willens einen neuen Gedanken fassen, die Seele in dessen Betrachtung festhalten, ihn nach allen Seiten wenden und zuletzt, wenn wir glauben, ihn hinlänglich betrachtet zu haben, ihn wegen einer andern Vorstellung fortschicken? Ich glaube, dieselben Gründe ergeben, dass auch ein solches Geheiss des Willens uns keine wirkliche Vorstellung von der Kraft und Wirksamkeit gewährt.

Erstens muss man einräumen, dass wir, wenn wir die Macht kennen, dann gerade den Umstand in der Ursache kennen, welcher sie befähigt, die Wirkung hervorzubringen; denn Beides ist gleichbedeutend. Wir müssten also dann sowohl die Ursache und Wirkung, als auch ihr Verhältniss zu einander kennen. Wer will aber behaupten, mit der Natur der menschlichen Seele, oder mit der Natur einer Vorstellung, oder mit der Einrichtung der einen zur Begründung der andern bekannt zu sein? Hier ist eine wirkliche Schöpfung; eine Hervorbringung aus Nichts. Dies scheint auf den ersten Blick eine so grosse Macht einzuschliessen, dass sie über den Bereich jedes endlichen Wesens hinausgeht. Man muss wenigstens anerkennen, dass eine solche Kraft nicht gefühlt wird, nicht bekannt ist, ja für die Seele unbegreiflich ist. Wir empfinden nur den Erfolg, nämlich das Dasein einer Vorstellung in Folge des Geheisses des Willens; aber die Art, wie dieser Vorgang sich vollzieht, die Kraft, durch welche er hervorgebracht wird, geht über unser Begreifen.

Zweitens: die Macht des Willens über die Seele ist ebenso beschränkt, wie die über den Leib, und diese Schranke lernt man nicht durch die Vernunft oder durch eine Kenntniss der Natur von Ursache und Wirkung kennen, sondern[63] nur durch Erfahrung und Beobachtung, wie bei allen anderen Naturereignissen und Vorgängen der äusseren Körper. Unsere Macht über unsere Gefühle und Leidenschaften ist viel früher als die über das Vorstellen, und selbst diese Macht ist in sehr enge Grenzen gefasst. Kann Jemand den letzten Grund für diese Schranken angeben oder zeigen, weshalb die Macht in einem Falle versagt und in dem andern nicht?

Drittens: Diese Macht über sich selbst ist zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden. Ein gesunder Mensch besitzt sie in stärkerem Maasse als ein durch Krankheit geschwächter. Wir sind am Morgen mehr Herr unseres Denkens, als am Abend; mehr in nüchternem Zustande, als nach einer reichlichen Mahlzeit. Kann man einen anderen Grund, als Erfahrung, für diesen Unterschied angeben? Wo bleibt also die Kraft, deren wir uns bewusstsein wollen? Sollte hier nicht ein geheimer Mechanismus oder Bau der Theile aus geistiger oder körperlicher Substanz, oder aus beiden bestehen, von dem die Wirkung abhängt; ein Bau, der uns unbekannt ist und deshalb die Kraft oder Wirksamkeit des Wollens so unbekannt und unbegreiflich bleiben lässt?

Das Wollen ist unzweifelhaft ein Vorgang in der Seele, den man genau kennt. Man schaue auf ihn und betrachte ihn von allen Seiten. Zeigt sich dabei irgend eine solche schöpferische Kraft, welche eine neue Vorstellung aus Nichts erhebt und mit einem: Es werde, die Allmacht des Schöpfers (mit Erlaubniss) nachahmt, welcher alle diese mannichfachen Erscheinungen der Natur in das Dasein rief? Wir sind durchaus ohne Wahrnehmung dieser Wirksamkeit des Willens; vielmehr gehört solche Erfahrung, wie wir sie besitzen, dazu, um die Ueberzeugung zu gewinnen, dass solche ausserordentliche Wirkungen aus einem einfachen Akt des Willens hervorgehen.

Die meisten Menschen finden es nicht schwer, die gewöhnlichen und bekannten Vorgänge der Natur zu erklären; z.B.: den Fall schwerer Körper, das Wachsen der Pflanzen, die Erzeugung der Thiere und die Ernährung des Körpers durch Lebensmittel. Man meint, in all diesen Fällen die wahre Kraft und Wirksamkeit der Ursache einzusehen, wodurch sie mit dem Erfolge verknüpft und in ihrer Wirksamkeit untrüglich ist. Man nimmt durch lange Gewohnheit eine solche Weise des Denkens an, dass man bei dem Eintritt der Ursache seinen gewöhnlichen Begleiter unmittelbar[64] und sicher erwartet und dass man sich kaum vorstellen kann, wie ein anderer Erfolg daraus hervorgehen könne.

Nur bei Wahrnehmung ausserordentlicher Ereignisse, wie Erdbeben, Pest, Wunder aller Art, findet man sich in Verlegenheit, wenn eine Ursache und die Art bezeichnet werden soll, wie die Wirkung daran geknüpft ist. Gewöhnlich nimmt man in solchen schwierigen Fällen seine Zuflucht zu einem unsichtbaren, geistigen Prinzip, als unmittelbarer Ursache eines solchen überraschenden Vorganges; man meint, dass ein solcher nicht von den gewöhnlichen Naturkräften abgeleitet werden könne. Aber weiter denkende Philosophen bemerken leicht, dass diese Wirksamkeit der Ursache in den bekanntesten Vorgängen ebenso unerkennbar ist als in den seltensten, und dass man durch Erfahrung nur die häufige Verbindung von Gegenständen kennen lernt, ohne doch die wahre Verknüpfung beider irgend erfassen zu können. Viele Philosophen halten sich deshalb aus Vernunftgründen verpflichtet, für alle Fälle dasselbe Prinzip aufzunehmen, was die grosse Masse nur bei wunderbaren und übernatürlichen zu Hülfe ruft. Sie nehmen an, dass die Vernunft und der Geist nicht allein die letzte und ursprüngliche Ursache aller Dinge sei, sondern auch die unmittelbare und einzige Ursache von jedem natürlichen Ereigniss. Sie behaupten, dass die Dinge, welche man gewöhnlich Ursachen nennt, in Wahrheit nur Gelegenheiten sind, und dass das wahre und unmittelbare Prinzip jeder Wirkung nicht eine Kraft oder Macht in der Natur, sondern ein Wollen des höchsten Wesens ist, welches bestimmt, dass solche besondere Gegenstände für immer mit einander verbunden sein sollen. Anstatt zu sagen, dass eine Billardkugel die andere durch eine von dem Urheber der Natur überkommene Kraft bewegt, ist es nach ihnen die Gottheit selbst, welche durch ein besonderes Wollen die zweite Kugel bewegt, indem sie zu dieser Handlung durch den Stoss der ersten Kugel bestimmt wird, und zwar in Folge der allgemeinen Gesetze, welchen sie sich selbst in ihrer Regierung der Welt unterworfen hat. Indess bemerken Philosophen, die in ihren Untersuchungen weiter gehen bald, dass so wenig, wie die Kraft bekannt ist, durch welche Körper auf einander wirken, es ebensowenig die Kraft ist, von welcher die Wirksamkeit der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele abhängt. Man kann weder durch äussere noch innere Wahrnehmung[65] das letzte Prinzip in dem einen Falle näher angeben als in dem andern. Die gleiche Unwissenheit treibt zu der gleichen Folgerung. Jene behaupten, dass die Gottheit die unmittelbare Ursache der Verbindung von Seele und Leib ist. Nicht die Sinnesorgane sollen durch ihre Erregung von äusseren Gegenständen die Empfindung in der Seele hervorbringen, sondern ein besonderes Wollen unseres allmächtigen Schöpfers, welcher in Folge einer solchen Erregung des Organs eine solche Empfindung erweckt. Ebenso ist es nicht die Willenskraft, welche die örtliche Bewegung der Glieder veranlasst, sondern Gott selbst, welchem es beliebt, unser an sich ohnmächtiges Wollen zu unterstützen und jene Bewegung zu gebieten, die man irrthtümlich der eigenen Kraft und Wirksamkeit zuschreibt. Auch begnügen sich die Philosophen nicht mit dieser Annahme; sie dehnen zum Theil diesen Einfluss auf die inneren Vornahmen der Seele aus. Unsere geistigen Anschauungen oder Begriffe sollen nur eine Offenbarung sein, welche der Schöpfer uns macht. Wenn wir freiwillig unsere Gedanken auf einen Gegenstand richten und sein Bild in das Wissen aufnehmen, so soll nicht der Wille diesen Begriff erzeugen, sondern der Schöpfer der Welt, welcher ihn der Seele enthüllt und vergegenwärtigt.

So ist nach diesen Philosophen jedes Ding von Gott erfüllt. Sie begnügen sich nicht mit dem Ausspruch, dass Alles nur durch seinen Willen, und die Kraft nur durch seine Zulassung besteht; sie nehmen auch der Natur und allen erschaffenen Wesen jede Macht, um ihre Abhängigkeit von Gott noch ersichtlicher und unmittelbarer zu machen. Sie bedenken nicht, dass sie durch diese Lehre die Grösse jener Eigenschaften, die sie so hoch erheben wollen, vielmehr verkleinern statt vergrössern. Denn es zeigt offenbar mehr Kraft in der Gottheit an, wenn sie einen gewissen Grad von Kraft den niederen Wesen überweist, als wenn sie Alles durch ihren unmittelbaren Willen vollbringt. Es zeigt mehr Weisheit, wenn der Bau der Welt mit so vollkommener Voraussicht eingerichtet ist; dass sie von selbst und durch ihre eigene Thätigkeit den Zwecken der Vorsehung dient, als wenn der Schöpfer jeden Augenblick genöthigt ist, ihre Theile zurecht zu stellen und durch seinen Athem alle Räder dieser ungeheuern Maschine zu beseelen. Verlangt man indess eine mehr philosophische Widerlegung[66] dieser Lehre, so werden vielleicht die zwei folgenden Erwägungen genügen.

Erstlich scheint es mir, dass diese Lehre von der allgemeinen Wirksamkeit und Beihülfe des höchsten Wesens zu plump ist, um Jemand zu überzeugen, welcher die Schwäche der menschlichen Vernunft und die engen Grenzen, in die sie bei ihrer Thätigkeit eingeschlossen ist, genügend erkannt hat. Wenn auch die zu dieser Lehre führende Schlusskette noch so logisch wäre, so kann man doch meinen, wenn nicht geradezu behaupten, dass sie uns weit über das Gebiet unserer Fähigkeiten hinausführt, insofern sie zu so ausserordentlichen und vom gewöhnlichen Leben und Erfahrungen so weit abliegenden Schlüssen leitet. Wir sind schon in das Feenland noch vor den letzten Schritten dieser Lehre eingetreten, und da kann unseren gewöhnlichen Beweis-Methoden nicht mehr vertraut werden; unsere gewöhnlichen Analogien und Wahrscheinlichkeiten haben da keine Geltung. Die Leine des Senkblei's ist zu kurz, um den Boden eines so unendlichen Abgrundes zu erreichen. Wenn man sich auch schmeichelt, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit und Erfahrung den Führer bei jedem Schritt, den man thut, abgiebt, so hat doch diese vermeintliche Erfahrung sicherlich bei Gegenständen keine Geltung, welche überhaupt ausserhalb des Kreises der Erfahrung liegen. Wir werden später hierauf zurückkommen. [In Abschnitt XII.]

Zweitens kann ich die Beweise, auf welche diese Lehre sich stützt, nicht als überzeugend anerkennen. Wir kennen allerdings nicht die Art, in welcher Körper auf einander wirken; ihre Kraft und Wirksamkeit ist uns ganz unverständlich; aber ist uns die Art und Kraft nicht ebenso unbekannt, wodurch ein Geist, und selbst der höchste Geist, auf sich oder einen Körper wirkt? Ich frage, woher nehmen wir die Vorstellung davon? In uns haben wir keine Empfindung oder Bewusstsein von dieser Kraft. Wir wissen von dem höchsten Wesen nur, was wir durch die Rücksicht auf die eigenen Vermögen von diesen ableiten. Wäre daher unsere Unwissenheit ein genügender Grund, um Alles zurückzuweisen, so würde man eher auf das Prinzip kommen, alle Wirksamkeit ebenso bei dem höchsten Wesen, wie bei dem gröbsten Stoff zu leugnen; denn wir verstehen die Wirksamkeit des Einen so wenig, wie die des Andern. Ist es schwerer, sich vorzustellen, dass die Bewegung vom Stosse[67] entspringt, als dass sie vom Wollen entspringt? Alles, was wir wissen, ist nur unsere gänzliche Unwissenheit in beiden Fällen.A3

5

Locke sagt in seinem Kapitel über die Kraft: Die Erfahrung lehrt, dass neue Hervorbringungen im Stoffe Statt haben; daraus folgert man, dass eine Kraft bestehen müsse, die dergleichen bewirken könne, und so gelangt man mit diesem Denken zuletzt zum Begriff der Kraft. – Aber kein Denken kann eine neue ursprüngliche einfache Vorstellung zuführen, wie dieser Philosoph selbst anerkennt. Der Begriff der Kraft kann daher auf diesem Wege nicht entstehen.

6

Man könnte sagen, dass die Vorstellung der Kraft und Macht sich aus dem Widerstande bilde, dem man bei Körpern begegne, und der uns nöthige, unsere Kraft anzuwenden und alle unsere Macht aufzubieten. Diese Anstrengung (nisus), deren wir hierbei uns bewusst werden, soll der ursprüngliche Eindruck sein, den diese Vorstellung abbildet. – Allein man spricht bei einer Menge Dingen von ihrer Kraft, wo man einen solchen Widerstand oder eine solche Kraftäusserung nicht voraussetzen kann; so bei dem höchsten Wesen, dem ja Nichts Widerstand leisten kann; so bei der Seele, in ihrer Herrschaft über Gedanken und Glieder; so beim gewöhnlichen Denken und Bewegen, wo die Wirkung unmittelbar dem Willen folgt, ohne Aeusserung oder Hülfe einer Kraft; so beim leblosen Stoff, der solcher Empfindung unfähig ist. Sodann hat diese Empfindung des Anstrengens, um einen Widerstand zu überwinden, keine bekannte Verknüpfung mit irgend einem Ereignisse. Was folgt, lernt man nur aus Erfahrung, aber nicht a priori.

Indess ist es richtig, dass diese lebendige Anstrengung, die man empfindet, dem gewöhnlichen und ungenauen Begriff der Kraft ziemlich entspricht, obgleich sie für den scharfen und genauen Begriff derselben nicht zureicht.

A3

Es bedarf endlich einer Untersuchung der Vis inertiae (Trägheitskraft), die dem Stoffe beigelegt, und von der in der neuen Philosophie so viel gesprochen wird. Man lernt aus Erfahrung, dass ein Körper in Ruhe oder in Bewegung seinen Zustand beibehält, bis er durch eine neue Ursache eine Aenderung erleidet, und dass ein gestossener Körper dem stossenden Körper so viel Kraft entzieht, als er selbst empfängt. Dies sind Thatsachen. Nennt man dies eine Vis inertiae, so bezeichnet man damit nur die Thatsachen, ohne einen Begriff von dieser trägen Kraft zu bieten. Man spricht ebenso von der Schwere und meint damit gewisse Vorgänge, ohne die thätige Kraft zu kennen. Es war nicht die Meinung Isaac Newton's, den mittelbaren Ursachen alle Kraft und Wirksamkeit abzusprechen, obgleich mehrere von seinen Schülern eine solche Lehre auf sein Ansehen zu stützen versuchten. Dieser grosse Philosoph nahm im Gegentheil ein ätherisches wirksames Fluidum zu Hülfe, um seine allgemeine Anziehung zu erläutern; obgleich er in seiner Vorsicht und Bescheidenheit anerkannte, dass dies eine blosse Hypothese sei, bei der man, ohne weitere Versuche, sich nicht beruhigen dürfe. Ueber die Ansichten waltet manchmal ein wunderbares Schicksal Descartes bot die Lehre von der allgemeinen und ausschliesslichen Wirksamkeit Gottes, ohne darauf bestehen zu wollen. Malebranche und andere Cartesianer nahmen sie zur Grundlage ihrer ganzen Philosophie. Sie gewann indess in England keine Gültigkeit. Locke, Clarke und Cudworth beachten sie nicht, sondern nehmen sämmtlich an, dass der Stoff eine wirkliche, obgleich untergeordnete und abgeleitete Kraft hat. Wodurch ist also diese vis inertiae zu solcher Bedeutung bei unseren modernen Metaphysikern gelangt?

Quelle:
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869, S. 56-68.
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