Abschnitt II.

[106] In der obigen Betrachtung habe ich angenommen, dass das Zeugniss, worauf das Wunder gestützt wird, volle Beweiskraft[106] erreiche, und dass seine Unwahrheit in der That unerhört sei; indess kann ich leicht zeigen, dass ich in meinen Zugeständnissen zu bereitwillig gewesen bin, und dass kein Wunder je auf einen vollen Beweis gestützt worden ist.

Denn erstens befindet sich in keinem Geschichtswerk ein Wunder auf eine genügende Zahl von Personen gestützt, deren gesunder Sinn, Erziehung und Kenntnisse so unanfechtbar wären, dass man gegen alle Täuschung derselben sich geschützt halten könnte; deren Rechtschaffenheit so unbedenklich wäre, um sie über allen Verdacht des Betruges zu erheben; deren Glaubwürdigkeit und Ansehen in den Augen der Menschen gefährdet worden wäre, wenn man sie bei einer Lüge ertappt hätte, und die sich in einem so besuchten Orte der Erde befunden, dass die Entdeckung unvermeidlich gewesen wäre. Und doch sind alle diese Umstände nöthig, um dem Zeugnisse eines Menschenvolle Zuverlässigkeit zu geben.

Zweitens zeigt sich in der menschlichen Natur ein Prinzip, was bei genauer Untersuchung die Zuversicht ausserordentlich mindern muss, welche man bei Wundern auf das Zeugniss der Menschen setzen könnte. Die Regel, nach der wir uns selbst beim Ueberlegen entscheiden, lautet, dass Dinge, die man nicht kennt, denen gleichen, die man kennt; dass das, was als das Häufigste erscheint, auch das Wahrscheinlichste ist, und dass bei widerstreitenden gründen man den Vorzug dem geben muss, der sich auf die grösste Zahl gleicher Fälle stützt. Allein wenn man auch nach dieser Regel keine Thatsache annimmt, welche im gewöhnlichen Grade ungewöhnlich und unglaublich ist, so hält man doch bei dem weiteren Fortgange diese Regel nicht fest; sondern wenn etwas ganz Verkehrtes und Wunderbares behauptet wird, so wird eine solche Thatsache um so leichter zugelassen, und zwar gerade wegen des Umstandes, der den Glauben an sie hindern sollte. Die Leidenschaft für Ueberraschung und Staunen welche das Wunder befriedigt, ist eine angenehme Aufregung und treibt sichtlich zu dem Glauben der Dinge, an welche sie sich heftet. Dies geht so weit, dass selbst die, welche dieses Vergnügen nicht unmittelbar geniessen und die erzählten wunderbaren Ereignisse nicht glauben können, doch gern an dem Genuss aus zweiter Hand oder durch Rückschlag Theil nehmen und einen Stolz[107] und ein Vergnügen darin setzen, bei Andern Staunen zu erwecken.

Mit welcher Begierde hört man nicht auf die wunderbaren Geschichten der Reisenden, auf ihre Beschreibung der See- und Land-Ungeheuer, auf ihre Berichte von ausserordentlichen Begegnissen, seltsamen Menschen und wilden Sitten? Verbindet sich nun noch die religiöse Gesinnung mit dieser Liebe zu Wundern, so hat es mit dem gesunden Verstande ein Ende, und menschliches Zeugniss verliert unter diesen Umständen allen Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Ein Gläubiger kann sich begeistern und sich einbilden, das Unwirkliche zu sehen; er kann wissen, dass seine Erzählung falsch ist, und doch, um eine so heilige Angelegenheit zu fordern, mit der besten Absicht dabei verharren. Selbst da, wo solche Täuschung nicht Statt hat, wirkt die durch eine so starke Versuchung geweckte Eitelkeit mächtiger auf ihn als auf alle Anderen in gewöhnlichen Verhältnissen; und ebenso wirkt sein eigenes Interesse mit gleicher Kraft. Seine Zuhörer haben vielleicht oder haben wirklich nicht die genügende Urtheilskraft, um sein Zeugniss zu prüfen; sie geben in so erhabenen und geheimnissvollen Dingen grundsätzlich ihr eigenes Urtheil gefangen, und selbst wenn sie es gebrauchen wollten, stören Leidenschaft und erhitzte Phantasie dessen regelmässige Wirksamkeit. Ihre Leichtgläubigkeit erhöht seine Unverschämtheit, und seine Unverschämtheit überwältigt ihre Leichtgläubigkeit.

Die Beredsamkeit auf ihrer Höhe lässt wenig Raum für Verstand und Nachdenken; wendet sie sich aber ganz an die Phantasie und deren Affekte so nimmt sie die gutwilligen Zuhörer gefangen und überwältigt ihren Verstand. Glücklicherweise wird diese Höhe selten erreicht. Was aber ein Tullius und Demosthenes bei einer Römischen oder Athenischen Versammlung kaum erreichen konnten, das vermag jeder Kapuziner, jeder herumziehende oder sesshafte Prediger über die meisten Menschen, und in höherem Maasse durch Erweckung dieser groben und niedrigen Leidenschaften.

Die vielen Beispiele von geschmiedeten Wundern, Prophezeiungen und übernatürlichen Ereignissen, die zu allen Zeiten entweder durch Gegenbeweise entdeckt worden sind, oder die sich durch ihre eigene Widersinnigkeit verrathen, sind ein genügendes Zeichen für die grosse Neigung der Menschen[108] zum Ausserordentlichen und Wunderbaren; sie genügen, um Verdacht gegen alle Berichte dieser Art zu erwecken. Diese hier geschilderte Weise des Fürwahrhaltens zeigt sich selbst bei den gemeinsten und wahrscheinlichsten Ereignissen. So entsteht z.B. kein Gerücht so leicht und verbreitet sich namentlich auf dem Lande und in kleinen Städten so schnell, als das über Heirathen; zwei junge Leute gleichen Standes können sich kaum zweimal sehen, ohne dass die ganze Nachbarschaft gleich ein Paar aus ihnen macht. Das Vergnügen, eine interessante Neuigkeit zu erzählen, zu verbreiten und der Erste dabei zu sein, bringt solche Nachricht schnell herum. Dies ist so allgemein, dass kein verständiger Mann auf solche Gerüchte etwas giebt, ehe nicht stärkere Beweise sie unterstützen. Sind es nicht dieselben Leidenschaften und andere noch stärkere, welche die Masse der Menschen alle religiösen Wunder mit der grössten Heftigkeit und Zuversicht glauben und erzählen lässt?

Drittens bildet es eine starke Vermuthung gegen die Berichte von unnatürlichen und wunderbaren Ereignissen, dass sie hauptsächlich nur unter unwissenden und rohen Völkern in Menge sich finden. Wenn ein gebildetes Volk dergleichen zugelassen hat, so zeigt sich, dass es dieselben von unwissenden und rohen Vorfahren empfangen hat; von diesen sind sie mit all der unverletzlichen Beglaubigung und dem Ansehen überliefert, welche sich immer mit alten Meinungen verbinden. Wenn man die Anfänge der Geschichte bei alten Völkern nachliest, so meint man in eine andere Welt versetzt zu sein, wo alle Gestalten der Natur verändert sind, und jedes Element seine Wirksamkeit in einer anderen Weise, als gegenwärtig, vollbringt. Schlachten, Revolutionen, Pestilenz, Hungersnoth und Tod sind da niemals die Wirkungen der uns bekannten Ursachen. Wunder, Vorzeichen, Orakel, Aussprüche verdunkeln vollständig die wenigen natürlichen Ereignisse, die dazwischen eingeschoben sind. Da indess dergleichen mit jeder Seite abnimmt, die den aufgeklärten Zeiten näher führt, so ersieht man, dass das Wunderbare und Uebernatürliche nicht existirt, sondern nur aus der bekannten Neigung der Menschen zum Wunderbaren entspringt. Wenn auch diese Neigung mitunter von den Sinnen und der Wissenschaft einen Schlag erhält, so kann sie doch nie aus der menschlichen Natur ausgerottet werden.[109]

Es ist sonderbar, wird ein vorsichtiger Leser bei diesen wunderbaren Geschichten sagen, dass solche wunderbaren Dinge sich jetzt gar nicht zutragen. Aber es ist doch nicht sonderbar, meine ich, dass die Menschen zu allen Zeiten lügen. Man hat ja genug Proben von dieser Schwäche erlebt; man hat gehört, wie Manche von diesen wunderbaren Berichten erst angestaunt und, nachdem sie mit Spott von allen klugen und vernünftigen Leuten behandelt worden, zuletzt selbst von der Menge aufgegeben worden sind. Man sei versichert, dass diese berühmten Lügen, welche zu einer solchen ungeheuerlichen Höhe verbreitet und aufgeschwollen sind, aus ähnlichen Anfängen entstanden sind; sie waren aber in einen passenderen Boden gesät und wuchsen so zu Ungeheuern auf, die beinahe denen gleichen, die sie erzählen.

Es war eine kluge Berechnung des falschen Propheten Alexander, der jetzt zwar vergessen, aber einst berühmt war, dass er zur ersten Scene seiner Betrügereien Paphlagonien wählte, wo das Volk ausserordentlich unwissend und thöricht war und selbst die gröbsten Betrügereien bereitwillig verschlang. Leute in der Ferne, welche schwach genug sind, die Sache ernst zu nehmen, haben keine Gelegenheit, bessere Nachrichten zu bekommen. Die Geschichten kommen durch hundert Nebendinge vergrössert zu ihnen. Die Narren beeifern sich, den Betrug zu verbreiten, während der kluge und vernünftige Mann in der Regel sich begnügt, den Unsinn zu belachen, ohne sich um die besonderen Umstände zu bekümmern, durch die er leicht widerlegt werden könnte. So konnte jener Betrüger mit den unwissenden Paphlagoniern beginnen, dann bis zur Aufnahme von Schülern, selbst aus den griechischen Philosophen, ja den vornehmsten und ausgezeichnetsten Männern in Rom vorschreiten. Selbst der weise Kaiser Marc Aurel schenkte ihm insoweit Aufmerksamkeit, dass er auf seine lügnerischen Prophezeiungen den Erfolg eines militärischen Unternehmens baute.

Die Vortheile sind so gross, wenn ein Betrug bei einem unwissenden Volke begonnen wird, dass, selbst wenn der Betrug zu grob ist, um allgemein zu täuschen (was, obgleich selten, mitunter der Fall ist), er doch eine weit grössere Aussicht auf Erfolg in fernen Ländern hat, als wenn die erste Scene in einer Stadt beginnt, die in Kunst und Wissenschaft berühmt ist. Die Dümmsten und Rohsten jener Barbaren[110] tragen das Gerücht nach Aussen; keiner ihrer Landsleute hat weitere Verbindungen oder genügendes Ansehen und Zutrauen, um dem Betruge zu widersprechen und ihn niederzuschlagen. Die menschliche Neigung zum Wunderbaren hat volle Gelegenheit, sich zu entfalten. Und so gilt eine Geschichte, welche an dem Orte, wo sie zuerst ausgestreut wurde, Jedermann von sich weist, in einer Entfernung von hundert Meilen als gewiss. Hätte Alexander seinen Sitz in Athen genommen, so würden die Philosophen dieses berühmten Sammelpunktes der Gelehrsamkeit ihre Ansicht in der Sache sofort durch das ganze römische Reich verbreitet haben; und diese Ansicht würde durch die Stütze solcher Autoritäten und durch die Kraft der Vernunft und Beredsamkeit in ihrer Darlegung allen Menschen die Augen geöffnet haben. Allerdings hatte Lucian, als er zufällig Paphlagonien durchreiste, eine gute Gelegenheit, diesen Dienst zu leisten; aber es trifft sich nicht immer, dass jeder Alexander einen Lucian findet, der bereit ist, seinen Betrug aufzusuchen und bloss zu legen.

Ich kann noch als vierten Grund gegen die Glaubwürdigkeit der Wunder anführen, dass es selbst für solche, die nicht als Betrug entdeckt worden sind, kein Zeugniss giebt, dem nicht eine Anzahl anderer Zeugnisse entgegenstände; das Wunder hebt deshalb nicht blos die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses, sondern dieses sich selbst auf. Zu mehrerer Verständlichkeit erwäge man, dass in Religionssachen jeder Unterschied auch ein Widerspruch ist, und dass die Religionen vom alten Rom, von der Türkei, von Siam und China unmöglich alle auf festem Grunde errichtet sein können. Mithin hat jedes Wunder, wovon diese Religionen erzählen (und sie wimmeln alle von Wundern), indem es das besondere System, zu dem es gehört, begründen will, zugleich die, wenn auch nur indirekte Kraft, jedes andere Religions-System umzustürzen. Mit Umstürzung der anderen Systeme zerstört es aber auch die Glaubwürdigkeit der Wunder, auf welche jene errichtet waren. Deshalb müssen die Wunder der verschiedenen Religionen als widersprechende Thatsachen gelten, und die Beweiskraft derselben, sei sie stark oder schwach, hebt die eine die andere auf. Folgt man dieser Auffassung, so hat man für den Glauben an die Wunder Mahomed's und seiner Nachfolger das Zeugniss einiger rohen Araber als Bürgschaft, und auf der anderen[111] Seite die Glaubwürdigkeit von Titus Livius, Plutarch, Tacitus und aller Schriftsteller und Zeugen unter den Griechen, Chinesen und Katholiken, welche die Wunder für ihre Religion berichten. Ich sage, man muss ihr Zeugniss ebenso betrachten, als hätten sie die Wunder von Mahomed erwähnt und ihnen mit derselben Bestimmtheit widersprochen, mit der sie ihre eigenen Wunder erzählen. Diese Art der Beweisführung erscheint vielleicht gesucht und spitzfindig, aber sie ist in der That gleicher Natur mit der eines Richters, welcher ausführt, dass die Glaubwürdigkeit zweier Augenzeugen eines Verbrechens durch das Zeugniss zweier anderer aufgehoben werde, welche versichern, dass der Thäter in der Zeit, wo das Verbrechen begangen sein soll, fünfzig Meilen davon entfernt gewesen sei.

Eines der best bezeugten Wunder in der Profan-Geschichte ist das, was Tacitus von Vespasian erzählt, der einen Blinden in Alexandrien mittelst seines Speichels und einen Lahmen durch die blosse Berührung seines Fusses heilte, in Folge einer Erscheinung des Gottes Serapis, welcher ihnen aufgegeben hatte, sich wegen dieser Wunderkuren an den Kaiser zu wenden. Man kann diese Geschichte bei diesem klassischen Schriftsteller nachlesen. 8 Alle Umstände vereinigen sich, um diese Nachricht zu beglaubigen; dies könnte mit aller Kraft der Beredsamkeit und Beweisführung weiter dargelegt werden, wenn Jemand noch ein Interesse hätte, die Zeugnisse für diesen erloschenen und götzendienerischen Aberglauben zu verstärken. Dahin gehören der Beruf, die Ruhe, das Alter und die Rechtschaffenheit eines so grossen Kaisers, welcher während seines ganzen Lebens mit seinen Freunden und Hofleuten vertraulich verkehrte und niemals den ausserordentlichen Schein göttlichen Wesens sich beilegte, wie Alexander und Demetrius. Ebenso war der Geschichtsschreiber ein Zeitgenosse und wegen seiner Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit bekannt; er war vielleicht der grösste und scharfsinnigste Kopf des ganzen Alterthums und so frei von jeder Neigung zur Leichtgläubigkeit, dass er den entgegengesetzten Vorwurf der Gottlosigkeit und Weltlichkeit sich zugezogen hat. Die Personen, auf deren Ansehen er das Wunder erzählt, waren sicherlich von anerkannter[112] Wahrhaftigkeit und Urtheilsfähigkeit; sie waren Augenzeugen der Thatsache, und wiederholten ihr Zeugniss, als die Flavische Familie die Herrschaft verloren hatte und als Preis der Lüge keine Belohnung mehr austheilen konnte. Alle, die dabei waren, sagt Tacitus, erzählen es noch jetzt, wo die Lüge keinen Lohn mehr zu hoffen hat. Nimmt man die Oeffentlichkeit des erzählten Vorganges hinzu, so kann es nicht leicht einen stärkeren Beweis für eine so grobe und offenbare Unwahrheit geben.

Auch der Kardinal von Retz erzählt eine merkwürdige Geschichte, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Bei seiner Flucht nach Spanien, um der Verfolgung seiner Feinde zu entgehen, kam dieser intriguante Staatsmann nach Saragossa, der Hauptstadt von Aragonien, wo man ihm in der Kathedrale einen Mann zeigte, welcher sieben Jahre als Thürhüter gedient hatte, und der jedem Einwohner, welcher in dieser Kirche gebetet hatte, wohl bekannt war. Er hatte die ganze Zeit nur ein Bein gehabt; aber durch Einreibung des Stumpfes mit heiligem Oel hatte er das andere wieder bekommen, und der Kardinal versichert, dass er ihn mit zwei Beinen gesehen habe. Dies Wunder wurde von allen Domherren bestätigt, und die ganze Bürgerschaft wurde zur Versicherung der Thatsache angerufen; der Kardinal fand, dass sie bei ihrem frommen Eifer vollständig an das Wunder glaubten. Hier ist der Berichterstatter ebenfalls ein Zeitgenosse des angeblichen Wunders; er ist von ungläubigem und sittenlosem Charakter, aber auch von scharfem Geiste. Das Wunder ist so eigener Natur, dass ein Betrug kaum möglich war, und die Zeugen waren zahlreich und gewissermassen Zuschauer der Thatsache, welche sie bekundeten. Was aber die Kraft des Beweises noch erheblich steigert und die Verwunderung über diesen Fall verdoppeln muss, ist, dass der Kardinal, der sie erzählt, sie anscheinend selbst nicht glaubt. Man kann ihn daher nicht als der Mithülfe bei diesem heiligen Betruge verdächtigen. Er urtheilte richtig, dass, um eine solche Thatsache zu verwerfen, es nicht gerade darauf ankomme, die Zeugnisse zu widerlegen und ihre Falschheit durch alle Züge von Leichtgläubigkeit und Schlechtigkeit zu verfolgen, welche sie zuwege brachten. Er wusste, dass dies schon bei einem geringen Abstande nach Zeit und Ort unmöglich wird, und dass selbst da, wo man unmittelbar gegenwärtig ist, es in Folge des Aberglaubens,[113] der Unwissenheit, Pfiffigkeit und Gemeinheit eines grossen Theiles der Menschen sehr schwer fällt. Er schloss deshalb wie ein vernünftiger Mann, dass solche Beweise die Unwahrheit schon auf ihrer Stirne trügen, und dass jedes auf menschliches Zeugniss gestützte Wunder mehr ein Gegenstand des Spottes als der Widerlegung sei.

Niemals ist eine grössere Zahl von Wundern Jemand zugeschrieben worden, als die, welche in Frankreich auf dem Grabe des Abt Paris, des berüchtigten Jansenisten geschehen sein sollten, mit dessen Heiligkeit das Volk so lange betrogen wurde. Die Heilung von Kranken, die Wiedererlangung des Gehörs bei Tauben, und des Gesichts bei Blinden wurden überall als Wirkungen dieses heiligen Grabes erzählt. Aber noch viel wunderbarer ist es, dass viele von diesen Wundern gleich an Ort und Stelle festgestellt worden sind, und zwar vor Richtern von unzweifelhafter Rechtlichkeit, auf das Zeugniss von glaubwürdigen und angesehenen Personen, in einem aufgeklärten Zeitalter und auf der hervorragendsten Schaubühne der jetzigen Welt. Dies ist aber noch nicht Alles. Ein Bericht davon wurde gedruckt und überall verbreitet, und die Jesuiten waren nicht im Stande, ihn bestimmt zu widerlegen oder den Betrug aufzudecken, obgleich diese gelehrte Körperschaft von der Obrigkeit unterstützt wurde und eine erklärte Feindin der Ansichten war, zu deren Gunsten die Wunder geschehen sein sollten.A10[114]

Wo gäbe es wohl eine solche Zahl von Umständen, die zur Bestätigung einer Thatsache so zusammenträfen wie hier, und was könnte man einer solchen Masse von Zeugen entgegenstellen,[115] wäre es nicht die unbedingte Unmöglichkeit der wunderbaren Natur der berichteten Ereignisse. Aber dies wird sicherlich in den Augen aller vernünftigen Leute als genügende Widerlegung gelten.[116]

Der Schluss ist nicht richtig, dass weil menschliches Zeugniss in gewissen Fällen von der höchsten Gültigkeit und Kraft ist, wenn es z.B. die Schlacht von Philippi oder Pharsalus berichtet, deshalb jede Art von Zeugniss in allen Fällen gleiche Kraft und Gültigkeit haben müsse. Man nehme an, dass die Parteien des Cäsar und Pompejus jede den Sieg in diesen Schlachten für sich beansprucht hätten, und dass die Geschichtsschreiber jeder Partei ebenso ihrer eigenen den Vortheil zugeschrieben hätten, wie hätte da die Menschheit bei solcher Entfernung die Entscheidung treffen können. Der Widerspruch ist aber ebenso stark bei den Wundern, die Herodot und Plutarch erzählen, und die Mariana, Beda und andere Mönche berichten.

Der Weise schenkt einem Bericht nur sehr zweifelhaften Glauben, wenn er den Leidenschaften des Berichterstatters schmeichelt, sei es zum Ruhme seines Landes, seiner Familie oder seiner selbst, oder im Interesse einer seiner Neigungen und Schwächen. Welche grössere Versuchung giebt es aber,[117] als für einen Sendling, einen Propheten oder Abgesandten des Himmels gehalten zu werden; wer fürchtet Gefahren und Schwierigkeiten, wenn es gilt, einen so erhabenen Charakter zu gewinnen. Wenn Jemand mit Hülfe seiner Eitelkeit und erhitzten Phantasie erst sich selbst zu einem Gläubigen gemacht hat und ernstlich auf die Täuschung eingegangen ist, so wird er vor keiner frommen Betrügerei zurückschrecken, die eine so heilige und verdienstvolle Sache unterstützen soll.

Der kleinste Funke kann hier zur grossen Flamme werden, weil die Stoffe dazu immer bereit liegen. Das avidum genus auricularum9, die staunende und stierende Volksmasse erfasst begierig und ohne Prüfung Alles, was dem Aberglauben schmeichelt und Wunder zu Stande bringt.

Wie viele solche Geschichten sind nicht zu allen Zeiten entdeckt und gleich in ihrer Kindheit ausgemerzt worden? Wie viele andere sind nicht für eine Zeit lang gepriesen worden und dann in Vergessenheit und Vernachlässigung gerathen? Wo mithin solche Erzählungen herumgetragen werden, da liegt die Lösung des Vorganges auf der Hand, und man bleibt in Uebereinstimmung mit den Regeln der Beobachtung und Erfahrung, wenn man sie auf die bekannten und natürlichen Ursachen der Leichtgläubigkeit und Täuschung zurückführt. Und soll man, anstatt zu einer so natürlichen Lösung zu greifen, lieber eine wunderbare Verletzung der festesten Naturgesetze annehmen?

Ich brauche nicht die Schwierigkeit bei Aufdeckung einer Unwahrheit zu erwähnen, welche für Privat- und selbst öffentliche Erzählungen schon an dem Orte besteht, wo das Ereigniss stattgefunden haben soll; sie wird noch grösser, wenn die Scene, wenn auch nur um ein Geringes, abrückt. Selbst ein Gerichtshof ist trotz seines Ansehens, seiner Genauigkeit und Sorgfalt oft in Verlegenheit, wenn er zwischen Wahrheit und Irrthum bei ganz natürlichen Vorgängen entscheiden soll. Aber die Sache kommt nie zum Austrag, wenn man sich nur der gemeinen Weise des Streitens, Zankens und den umlaufenden Gerüchten anvertraut; vorzüglich, wenn die Leidenschaften auf beiden Seiten sich einmischen.

Während der Kindheit einer neuen Religion halten kluge und gelehrte Leute die Sache gewöhnlich ihrer Aufmerksamkeit[118] und Berücksichtigung nicht werth. Später, wenn sie den Betrug gerne aufdecken möchten, um die Menge aus der Täuschung zu befreien, ist die gute Zeit vorüber, und die Zeugen und Urkunden, welche die Sache aufklären könnten, sind unwiederbringlich verloren.

Keine Mittel der Aufdeckung bleiben dann übrig, als die, welche aus den Aussagen der Berichterstatter selbst hervorgehen, und welche dem Verständigen und Unterrichteten genügen, aber für das Verständniss der Masse meist zu fein sind.

Im Ganzen erhellt, dass kein Zeugniss für irgend ein Wunder es kaum zur Wahrscheinlichkeit, geschweige zur Gewissheit bringen könne; selbst wenn es möglich wäre, würde ihm die andere Gewissheit entgegenstehen, welche sich aus der Natur der Thatsache von selbst ergiebt, die bewiesen werden soll. Nur die Erfahrung giebt dem menschlichen Zeugniss Glaubwürdigkeit; aber dieselbe Erfahrung vergewissert auch von den Gesetzen der Natur. Stehen daher diese beiden Arten von Erfahrung einander entgegen, so kann man nur die eine von der andern abziehen und entweder die Ansicht der einen oder andern Seite mit der Zuversicht annehmen, welche sich aus dem Ueberrest ergiebt. Nach den hier dargelegten Grundsätzen verwandelt sich bei allen Volksreligionen diese Subtraktion in eine gänzliche Aufhebung, und man kann es daher als Grundsatz aufstellen, dass kein menschliches Zeugniss ein Wunder beweisen und zur Grundlage eines Religionssystems machen kann.

Ich bitte die hier gemachte Einschränkung nicht zu übersehen, wenn ich sage, dass kein Wunder so bewiesen werden kann, um zur Grundlage eines Religionssystems zu dienen. Denn ich gebe zu, dass sonst vielleicht es Wunder und Verletzungen des gewöhnlichen Naturlaufs solcher Art geben mag, welche durch menschliches Zeugniss beweisbar sind; obgleich es vielleicht unmöglich sein wird, irgend ein solches in einer Geschichtsurkunde aufzufinden. So nehme man z.B. an, dass alle Geschichtsschreiber in allen Sprachen darin übereinstimmten, dass am 1. Januar 1600 eine vollständige Finsterniss über der ganzen Erde acht Tage lang verbreitet gewesen sei; man nehme an, dass die Ueberlieferung dieses ausserordentlichen Ereignisses noch im Volke stark und lebendig sei; dass alle aus fremden Ländern zurückkehrenden Reisenden dieselbe Ueberlieferung brächten,[119] ohne die geringste Veränderung oder Widerspruch: so würden offenbar unsere heutigen Philosophen, anstatt die Sache zu bezweifeln, sie als gewiss annehmen und die Ursachen aufsuchen müssen, welche sie veranlasst haben könnten. Der Rückgang, die Verderbniss und die Auflösung der Natur wird durch so manche Analogien wahrscheinlich gemacht, dass ein nach dieser Katastrophe hin zielendes Ereigniss innerhalb des Beweises menschlichen Zeugnisses fällt, wenn die Bekundungen zahlreich und gleichlautend sind.

Man setze aber, alle Geschichtsschreiber Englands stimmten darin überein, dass die Königin Elisabeth am 1. Januar 1600 gestorben sei; dass sowohl vor als nach ihrem Tode sie von ihren Aerzten und dem ganzen Hofe gesehen worden sei, wie bei Personen ihres Ranges dies gebräuchlich ist; dass ihr Nachfolger vom Parlament anerkannt und ausgerufen worden sei, und dass Jene, einen Monat nach ihrem Begräbniss, wieder erschienen sei, den Thron wieder bestiegen und England noch drei Jahre regiert habe. Ich würde dann allerdings über das Zusammentreffen so vieler Umstände betroffen sein, aber nicht im Geringsten geneigt sein, ein so wunderbares Ereigniss zu glauben. Ich würde den vorgeblichen Tod und das, was sich nachher öffentlich zugetragen hat, nicht bezweifeln; ich würde nur behaupten, dass der Tod blos vorgegeben worden sei und kein wirklicher gewesen sei und gewesen sein könne. Man würde mir vergeblich entgegnen, dass es schwer, ja unmöglich sei, die Welt in einer so wichtigen Angelegenheit zu hintergehen; auch die Weisheit und das sichere Urtheil dieser berühmten Königin, so wie der geringe Nutzen, den sie aus so einem erbärmlichen Kunststück hätte ziehen können, – Alles das würde mich nur stutzig machen; aber ich würde immer erwidern, dass die Schlechtigkeit und Thorheit der Menschen so gewöhnliche Dinge sind, dass ich eher an ausserordentliche Ereignisse aus deren Zusammentreffen glauben, als eine so offenbare Verletzung der Naturgesetze zulassen könnte.

Hängt aber das Wunder mit irgend einem neuen Religionssystem zusammen, so sind die Menschen zu allen Zeiten durch lächerliche Geschichten der Art so sehr betrogen worden, dass dieser Umstand allein die Täuschung beweisen, und dies für alle vernünftigen Leute genügen würde, um nicht allein die Thatsache zu verwerfen, sondern es selbst[120] ohne weitere Prüfung zu thun. Sollte auch das Wesen, dem das Wunder zugeschrieben wird, in solchem Falle allmächtig sein, so wird letzteres deshalb doch nicht um ein Haarbreit wahrscheinlicher; da es für uns unmöglich ist, die Eigenschaften und Handlungen eines solchen Wesens anders, als aus der Erfahrung kennen zu lernen, die wir aus deren Aeusserungen in dem gewöhnlichen Laufe der Natur entnehmen. Dies nöthigt zur Vergleichung früherer Beobachtungen und Fälle, wo menschliches Zeugniss die Wahrheit verletzt hat, mit solchen, wo die Naturgesetze durch Wunder verletzt worden sind, um zu entscheiden, welches von beiden wahrscheinlicher ist. Da nun bei religiösen Wundern die Verletzung der Wahrheit durch Zeugniss gewöhnlicher ist als bei andern Gelegenheiten, so muss das die Glaubwürdigkeit jener sehr vermindern und zu dem allgemeinen Entschluss führen, ihm niemals Aufmerksamkeit zu zollen, sei es auch noch so sehr mit scheinbaren Vorwänden ausgestattet.

Lord Bacon scheint denselben Grundsatz angenommen zu haben. »Man sollte,« sagt er, »eine Sammlung oder besondere Geschichte machen von allen Ungeheuern und wunderbaren Geburten oder Erzeugnissen, kurz, von allem Neuen, Seltenen und Ausserordentlichen in der Natur. Dies müsste aber mit der grössten Sorgfalt geschehen, damit man sich nicht von der Wahrheit entferne. Vor Allem muss jede Erzählung als verdächtig gelten, welche in irgend einer Weise mit der Religion zusammenhängt, wie die Wunder bei Livius und nicht minder von Allem in den Schriften über natürliche Magie oder Alchymie, und bei solchen Schriftstellern, welche ein unüberwindliches Verlangen nach Unwahrheit und Fabeln verrathen.« (Novum Organon. Buch II. Satz 29.)

Diese Auffassung gefällt mir um so besser, als sie vielleicht jene gefährlichen Freunde und verkappten Feinde der christlichen Religion verwirren hilft, welche ihre Vertheidigung mit Grundsätzen der Vernunft versucht haben. Unsere allerheiligste Religion stützt sich auf den Glauben und nicht auf die Vernunft, und es heisst sicherlich sie gefährden, wenn man sie auf eine solche Probe stellt, die sie in keinem Falle bestehen kann. Um dies klar zu machen, will ich einige der in der Bibel erzählten Wunder untersuchen.[121] Um nicht zu weit abzuschweifen, will ich mich auf die Wunder in den fünf Büchern Mosis beschränken; ich werde sie nach den Grundsätzen jener angeblichen Christen prüfen, also nicht als Gottes Wort und Zeugniss nehmen, sondern als den Bericht eines menschlichen Schriftstellers und Geschichtsschreibers. Hier haben wir zunächst ein Buch, was von einem rohen und unwissenden Volke uns überliefert ist, was zu einer noch roheren Zeit und wahrscheinlich nach den erzählten Thatsachen abgefasst ist; es wird durch kein gleichzeitiges Zeugniss bestärkt und ähnelt den fabelhaften Erzählungen, wie sie jedes Volk von seinem Ursprunge besitzt. Beim Lesen zeigt sich dieses Buch voll von Wundern und Ungeheuerlichkeiten. Es erzählt von einem Zustande der Welt und Menschen, der von dem gegenwärtigen, ganz abweicht; von dem Verlust dieses Zustandes; von Menschen, die beinah tausend Jahre alt geworden; von der Zerstörung der Erde durch die Sündfluth; von einer willkürlichen Erwählung eines Volkes als des vom Himmelbegünstigten; dies Volk sind die Landsleute des Verfassers; er berichtet von ihrer Befreiung aus der Knechtschaft durch die erstaunlichsten Ereignisse. Nun bitte ich, dass Jeder die Hand auf sein Herz lege und nach einer ernsten Ueberlegung erkläre, ob nach seiner Meinung die Wahrheit eines solchen Buches, was auf solche Zeugnisse sich stützt, nicht ausserordentlicher und wunderbarer sein würde als alle die Wunder, die es berichtet? Dennoch müsste dies sein, wenn man es nach den oben dargelegten Regeln der Wahrscheinlichkeit zulassen will. –

Was hier von Wundern gesagt worden ist, gilt ebenso von Prophezeiungen. In der That sind alle Prophezeiungen wirkliche Wunder, und nur als solche können sie als Beweise für die Offenbarung gelten. Ueberschritte die Vorhersagung künftiger Ereignisse nicht die Kräfte der menschlichen Natur, so wäre es verkehrt, die Prophezeiung als Grund für die göttliche Sendung und das himmlische Ansehen zu benutzen. Hieraus ergiebt sich, dass überhaupt die christliche Religion nicht blos im Anfange von Wundern begleitet war, sondern dass sie auch heutiges Tages von Niemand ohnedem geglaubt werden kann. Die blosse Vernunft vermag nicht, uns von ihrer Wahrheit zu überzeugen, und wen der Glaube bestimmt, ihr beizustimmen, der ist sich eines fortwährenden Wunders in seiner Person bewusst, welches alle Regeln seines[122] Verstandes umstösst und ihn treibt, gerade das zu glauben, was der Gewohnheit und Erfahrung am meisten widerspricht.

8

Tacitus' Geschichten. Buch V. Kapitel 8. Sueton erzählt im Leben Vespasian's die Geschichte ziemlich ebenso.

A10

Die Schrift verfasste Herr Montgeron, Parlamentsrath in Paris, ein Mann von Ansehen und Charakter. Er wurde zum Märtyrer für diese Sache und soll in Folge dieser Schrift irgendwo im Kerker sitzen.

Es giebt auch noch ein anderes Buch in drei Bänden (Titel: Erzählung der Wunder des Abt Paris), was einen Bericht über viele dieser Wunder mit Bemerkungen enthält, und welches gut geschrieben ist. Dennoch zieht sich durch das Ganze eine lächerliche Vergleichung der Wunder des Abtes mit denen unseres Erlösers, und es wird behauptet, dass der Beweis für jene so stark, wie für diese sei. Als wenn das Zeugniss der Menschen je mit dem von Gott selbst verglichen werden könnte, der den inspirirten Verfassern die Feder geführt hat. Könnte man diese Verfasser nur als menschliche Zeugen betrachten, so wäre jener französische Schriftsteller noch massig in seinem Vergleich; er könnte dann mit vielem Schein behaupten, dass die Jansenistischen Wunder jene weit an Bezeugung und Glaubwürdigkeit übertreffen. Das Folgende ist glaubwürdigen Dokumenten entnommen, die in jenem Buche abgedruckt sind.

Viele von diesen Wundern des Abt Paris wurden sofort von Zeugen vor dem Officium oder bischöflichen Gerichtshof von Paris unter den Augen des Kardinal Noailles bekundet, dessen Einsichten und Charakter selbst von seinen Feinden nicht angegriffen worden sind.

Sein Nachfolger im Bischofssitz war ein Feind der Jansenisten und deshalb dazu berufen worden. Trotzdem dringen zweiundzwanzig Rektoren oder Pastoren von Paris mit dem höchsten Ernst in ihn, diese Wunder zu untersuchen, die aller Welt bekannt und über alle Zweifel erhaben sein sollten. Er lehnte es indess klüglich ab.

Die Molinistische Partei hatte in dem Fall des Fräulein le Franc diese Wunder in Verdacht bringen wollen. Allein sie verfuhren dabei auf die unregelmässigste Weise von der Welt; insbesondere verhörten sie nur einige Jansenisten, mit denen sie heimlich durchstachen, und bald wurden sie durch einen Haufen neuer Zeugen erdrückt; einhundertundzwanzig an Zahl, welche zu den vermögenden und glaubwürdigen Einwohnern gehörten und das Wunder beschwuren. Damit verband sich eine feierliche und ernste Berufung an das Parlament. Es war indess dem Parlament von Oben verboten worden, sich in die Sache zu mischen. – Man ersieht, dass wenn die Menschen von Eifer und Begeisterung erhitzt sind, selbst die stärksten Zeugnisse für die grösste Widersinnigkeit beschafft werden können. Wer so thöricht ist, die Sache aus diesem Gesichtspunkt zu betrachten und nach besonderen Mängeln in den Zeugnissen zu suchen, wird sicherlich nichts erreichen. Die Betrügerei wäre jämmerlich, die bei einem solchen Streit nicht die Oberhand behielte.

Alle, welche damals in Frankreich waren, wussten, welches Ansehen Herr Heraut, der Polizeipräsident, besass, dessen Wachsamkeit, Scharfsinn, Thätigkeit und ausgedehnte Einsicht allgemein anerkannt wurde. Diese Magistratsperson, deren amtliche Macht beinahe unbeschränkt war, hatte volle Macht erhalten, die Wunder zu unterdrücken und in Verdacht zu bringen. Oft citirte und vernahm er sofort die Zeugen und die bei dem Wunder Betheiligten, und dennoch konnte er nie etwas Genügendes gegen sie erreichen.

In dem Falle mit Fräulein Thibaut schickte er den bekannten Dr. de Sylow zu ihr; dessen Bericht ist sehr merkwürdig. Der Arzt versichert, dass sie unmöglich so krank gewesen sein könne, wie die Zeugen bekundeten, weil sie unmöglich sich so schnell hätte wieder vollständig erholen können, wie dies bei seinem Besuche der Fall gewesen. Er hält sich mit seinen Folgerungen, wie ein verständiger Mann, innerhalb des Natürlichen, aber die Gegner sagten ihm, dass das Ganze ein Wunder sei und dass sein Zeugniss der sicherste Beweis dafür sei.

Die Molinisten befanden sich in einer unangenehmen Lage. Sie wagten es nicht zu behaupten, dass menschliches Zeugniss für den Beweis eines Wunders ganz unzureichend sei; sie waren vielmehr genöthigt, das Wunder als ein Werk der Zauberei und des Teufels darzustellen. Man entgegnete ihnen, dass dies die alten Juden auch so gemacht hätten.

Kein Jansenist kam in Verlegenheit, wenn er erklären sollte, weshalb die Wunder aufgehört hätten, als der Kirchhof auf Befehl des Königs geschlossen wurde. Die Berührung des Grabes war es, die diese wunderbaren Wirkungen hervorbrachte; konnte Niemand zum Grabe gelangen, so konnte man auch keine Wirkung erwarten. Allerdings hätte Gott die Mauern augenblicklich umreissen können; aber er bleibt der Herr über seine Gnade und Werke, und wir haben keine Rechtfertigung davon zu geben. Er wirft nicht in jeder Stadt die Mauern nieder, wie in Jericho bei dem Ton der Widderhörner, und er bricht nicht das Gefängniss jedes Apostels auf, wie er bei dem heiligen Paulus gethan.

Kein geringerer Mann, als der Herzog von Chantillon, Herzog und Pair von Frankreich, vom höchsten Rang und Familie, bezeugt die Wunderkur an seinem Diener, der mehrere Jahre an seinem Hofe an einer sichtbaren und fühlbaren Krankheit gelitten hatte.

Ich schliesse mit der Bemerkung, dass die Weltgeistlichkeit von Frankreich vor Allem sich durch Reinheit des Lebens und der Sitten auszeichnet; insbesondere die Pfarrer und Rektoren von Paris, welche diese Betrügereien bezeugen.

Die Gelehrsamkeit, der Verstand und die Rechtlichkeit der Mönche, so wie die Sittenstrenge der Nonnen von Port-Royal sind durch ganz Europa bekannt. Dennoch bezeugen sie sämmtlich ein Wunder, was an der Nichte des berühmten Pascal geschehen sei, dessen heiliges Leben ebenso wie sein ausserordentlicher Geist allbekannt sind. Der berühmte Racine erzählt in seiner berühmten Geschichte von Port-Royal dieses Wunder und bestätigt es durch das Zeugniss einer Menge von Nonnen, Priestern, Aerzten und Edelleuten, deren Glaubwürdigkeit unzweifelhaft war. Mehrere Gelehrte, unter Andern der Bischof von Tournay, hielten diese Wunder für so gewiss, dass sie sie zur Widerlegung der Atheisten und Freidenker benutzten. Die Regentin von Frankreich, welche gegen Port-Royal sehr eingenommen war, sandte ihren eigenen Arzt zur Untersuchung des Wunders, und dieser kam als ein Bekehrter zurück. Kurz, die übernatürliche Heilung war so unbestreitbar, dass es eine Zeit lang dieses berühmte Kloster gegen die Aufhebung schützte, mit der es die Jesuiten bedrohten. Hätte hier ein Betrug untergelegen, so hätte er sicherlich durch so kluge und muthige Gegner entdeckt werden müssen, und es würde die Niederlage der Betrüger beschleunigt haben. Unsere Geistlichen vermögen aus verächtlichem Material eine furchtbare Burg zu errichten; welches ungeheure Werk hätten sie da nicht aus diesen und anderen Umständen zu Stande bringen können, die ich übergangen habe. Wie oft würden die grossen Namen von Pascal, Racine, Arnold und Nicole vor unseren Ohren geklungen haben? Wären sie klug gewesen, so hätten sie das Wunder annehmen sollen, und nicht tausendmal mehr werth sein wollen, als der Rest ihrer Sippschaft. Ueberdem hätte es ihnen sehr nützlich werden können. Denn dieses Wunder wurde wirklich vollbracht durch die Berührung eines wirklichen heiligen Spans von den heiligen Dornen, welche die heilige Krone bildeten, welche u.s.w.

9

Lucretius.

Quelle:
David Hume: Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Berlin 1869, S. 106-123.
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