XI

[42] Nachdem er lang geliebkost der Rehaugigen,

Ging vollgeschmückt zum laub'gen Lager Kéśava;

Da sprach, als augenlabend an der Abend glomm,

Zur fröhlich aufgeputzten Rādhā so die Magd:

(1)
[42]

Der da mit schönen versöhnenden Tönen die Füße dir flehend umfangen,

Nun in der luftigen Laube zum lockenden Lager der Lust ist gegangen,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(2)


Walle mit wallendem Busen, mit wogender Lendenbewegung die Bahnen,

Schüchtern im Klange des schütternden Schmuckes, und zeige den Gang der Fasanen,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(3)


Hörst du des Madhu-Befehders die frauenbezaubernde Stimme, die süße?

Unter dem Kokila-Chore, dem Liebe besingenden, suche Genüsse,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(4)


Winkend im Winde, mit blättergefingerten Händen, die Winden der Bäume

Mahnen dich lange zur Eile des Gangs, saumselige, länger nicht säume,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(5)


Diese vom Drang des Anaṅga bewegte, nach Hari's Umarmungen Lust nur[43]

Zeigende, frage du diese von hellen Juwelen betauete Brust nur,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(6)


Von der Gefährtinnen Reihen umrungen, zum ringenden Kampfe gerüstet,

Rasende, rühre die Trommel, und fahre die Nachtfahrt, scheulos gebrüstet!

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(7)


Stütze die Hand mit dem Manmatha-Pfeile, dem Nagel, auf deine Vertraute,

Wecke den lauschenden Freund mit der Spangen im Anschritt dröhnenden Laute,

Mädchen! Dem Madhu-Bemeistrer,

Dem genaheten, nahe dich, Rādhikā!

(8)


»Schauen wird sie mich, wird kommen, bringen süßen Liebesgruß,

Mit Umfang sich letzen, lustvereinigt!« so gedankenvoll

Blickt er, Freundin, dort nach dir aus, zittert, schaudert, jauchzt, zerfließt,

Springt empor und sinkt zurück, im dunkeln Laubgewölb, dein Freund.

(10)


Schwarze Schmink' aufs Auge tuend, hinters Ohr Tāpiccha-Laub,[44]

Auf die Locke dunklen Lotos, auf die Brust ein Muscusmal

Lauscht, gehüllt in dichte Schleier, jetzt das Nachtgraun im Gebüsch,

Und umfängt, o Freundin, eil'ger Nachtbesucherinnen Leib.

(11)


Von kaschmirweißgeleibter Wandlerinnen

Juwelenglänzen überall bestreifet,

Dient dies tamālenblätterschwarze Dunkel

Der Nacht zum Probstein ihres Liebegoldes.

(12)


Am Eingang des vom Glanz des Halsgeschmeides,

Des goldnen Gürtels und der Kettenspangen

Durchstrahlten Laubdachs stand beschämt und schaute

Den Hari Rādhā, da begann die Freundin:

(13)


Hier in des Laubrankengeflechts Freudengemache,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, Wonnebegierblickende, lache!

(14)


Wo sich ein frischgrünes Gebüsch wölbet zum Bette,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, laß auf der Brust klingen die Kette!

(15)


Wo den Palast blühender Ast baut, der betaute,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, zierliche, zartblumengebaute!

(16)
[45]

Wo von der Duftmalaya-Luft kühl sind die Hallen,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, laß den Gesang lockend erschallen!

(17)


Unter des Laubdaches gewindwebendem Hange,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, ruhe vom anstrengenden Gange!

(18)


Wo ihr Gesumm übet die Imm' honigbetrunken,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, süß in Begier wonnig versunken!

(19)


Wo dich der Lenzkokila laut ladet zum Sitze,

Rādhā, tritt ein in Mādhava's Nähe,

Spiele du hier, zeige des Zahns glänzende Spitze!

(20)


Mit verlangendem Lustbangen, auf Govinda gewandt den Blick,

Hold mit hellem Geschmeid läutend, ging sie ein in das Haingemach.

(23)


Ihn, der, von Rādhā's Antlitz bestrahlet, entfaltete vielfache Regung,

Wie bei des Monds Aufgange des wallenden Weltmeers Wellenbewegung,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(24)
[46]

Dem ein gesterntes Geschmeide sich schmiegt' um den Busen in weiter Umfließung,

Gleich der mit glänzenden Schäumen sich kränzenden Yamunā-Flutenergießung,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(25)


Dem um den bräunlichen lieblichen Leib sich gebreitet die gelbliche Hülle,

Wie um die blaue Nymphäe des stäubenden Duftes vergoldende Fülle,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(26)


Dem auf dem liebegeröteten Antlitz die flatternden Wimpern sich wiegen,

Wie Bachstelzen im herbstlichen Weiher um blühende Lotosse fliegen,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(27)


Welchem die Wangennymphäe zu küssen, die Ohrringsonnen sich drehen,

Welchem mit lächelndem Glanz aufblühen die Lippen, um Liebe zu flehen,[47]

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(28)


Dessen beblumete Locken der Wolke, der mondlich- beschimmerten, gleichen,

Dem wie ein Mond aus der Nacht sich erhebt an der Stirne von Sandel das Zeichen,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(29)


Mächtig vom Schauer der Wonne geschüttert, vom Pulse der Liebe durchzittert,

Rings von dem Strahlengewebe juwelenen Schmuckes die Glieder umflittert,

Hari, den einzigholden, der lang' ersehnt die Vereinung,

Sah sie nun, ihn mit den lustaussprechenden Mienen, Anaṅga's Erscheinung.

(30)


Aus dem Auge, das den Winkel überschreitend, nach des Ohrs

Grenzgebiet hinstrebend, niedersinken ließ den schwanken Stern,

Stürzte jetzt der Rādhā, da ihr des Geliebten Anblick ward,

Plötzlich wie ein Schweißerguß hervor ein Freudentränenstrom.

(32)
[48]

Sie stand am Rand des Lagers,

Als, unter'm Schein, die Wange sich zu jücken,

Das Lachen sich verhaltend,

Der aufmerksamen Mägde Schar hinausging;

Und als sie sah das Antlitz

Des Liebsten, das von Smara's Pfeil entglommne,

Die schämige, da ging nun

Hinweg die Scham auch von der Rehgeaugten.

(33)

Quelle:
Gītagovinda: Das indische Hohelied des bengalischen Dichters Jayadeva. Leipzig [1920], S. 42-49.
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