Zweiter Abschnitt. Vom persönlichen Recht
§ 18

[382] Der Besitz der Willkür eines anderen, als Vermögen, sie, durch die meine, nach Freiheitsgesetzen zu einer gewissen Tat zu bestimmen (das äußere Mein und Dein in Ansehung der Kausalität eines anderen), ist ein Recht (dergleichen ich mehrere gegen eben dieselbe Person oder gegen andere haben kann); der Inbegriff (das System) der Gesetze aber, nach welchen ich in diesem Besitz sein kann, das persönliche Recht, welches nur ein einziges ist.

Die Erwerbung eines persönlichen Rechts kann niemals ursprünglich und eigenmächtig sein (denn eine solche würde nicht dem Prinzip der Einstimmung der Freiheit meiner Willkür mit der Freiheit von jedermann gemäß, mithin unrecht sein). Eben so kann ich auch nicht durch rechtswidrige[382] Tat eines anderen (facto iniusto alterius) erwerben; denn wenn diese Läsion mir auch selbst widerfahren wäre, und ich von dem anderen mit Recht Genugtuung fordern kann, so wird dadurch doch nur das Meine unvermindert erhalten, aber nichts über das, was ich schon vorher hatte, erworben.

Erwerbung durch die Tat eines anderen, zu der ich diesen nach Rechtsgesetzen bestimme, ist also jederzeit von dem Seinen des anderen abgeleitet, und diese Ableitung, als rechtlicher Akt, kann nicht durch diesen als einen negativen Akt, nämlich der Verlassung, oder einer auf das Seine geschehenen Verzichttuung (per derelictionem aut renunciationem), geschehen, denn dadurch wird nur das Seine eines oder des anderen aufgehoben, aber nichts erworben, – sondern allein durch Übertragung (translatio), welche nur durch einen gemeinschaftlichen Willen möglich ist, vermittelst dessen der Gegenstand immer in die Gewalt des einen oder des anderen kommt, alsdann einer seinem Anteile an dieser Gemeinschaft entsagt, und so das Objekt durch Annahme desselben (mithin einen positiven Akt der Willkür) das Seine wird. – Die Übertragung seines Eigentums an einen anderen ist die Veräußerung. Der Akt der vereinigten Willkür zweier Personen, wodurch überhaupt das Seine des einen auf den anderen übergeht, ist der Vertrag.




§ 19

In jedem Vertrage sind zwei vorbereitende, und zwei konstituierende rechtliche Akte der Willkür; die beiden ersteren (die des Traktierens) sind das Angebot (oblatio) und die Billigung (approbatio) desselben; die beiden andern (nämlich des Abschließens) sind das Versprechen (promissum) und die Annehmung (acceptatio). – Denn ein Anerbieten kann nicht eher ein Versprechen heißen, als wenn ich vorher urteile, das Angebotene (oblatum) sei etwas was dem Promissar angenehm sein könne; welches durch die zwei erstern Deklarationen angezeigt, durch diese allein aber noch nichts erworben wird.[383]

Aber weder durch den besonderen Willen des Promittenten, noch den des Promissars (als Akzeptanten), geht das Seine des ersteren zu dem letzteren über, sondern nur durch den vereinigten Willen beider, mithin so fern beider Wille zugleich deklariert wird. Nun ist dies aber durch empirische Actus der Deklaration, die einander notwendig in der Zeit folgen müssen, und niemals zugleich sind, unmöglich. Denn, wenn ich versprochen habe und der andere nun akzeptieren will, so kann ich während der Zwischenzeit (so kurz sie auch sein mag) es mich gereuen lassen, weil ich vor der Akzeptation noch frei bin; so wie anderseits der Akzeptant, eben darum, an seine auf das Versprechen folgende Gegenerklärung auch sich nicht für gebunden halten darf. – Die äußern Förmlichkeiten (solennia) bei Schließung des Vertrags (der Handschlag, oder die Zerbrechung eines von beiden Personen angefaßten Strohhalms (stipula)), und alle hin und her geschehene Bestätigungen seiner vorherigen Erklärung beweisen vielmehr die Verlegenheit der Paziszenten, wie und auf welche Art sie die immer nur aufeinander folgenden Erklärungen als in einem Augenblicke zugleich existierend vorstellig machen wollen, was ihnen doch nicht gelingt; weil es immer nur in der Zeit einander folgende Actus sind, wo, wenn der eine Akt ist, der andere entweder noch nicht, oder nicht mehr ist.

Aber die transzendentale Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag kann allein alle diese Schwierigkeiten heben. In einem rechtlichen äußeren Verhältnisse wird meine Besitznehmung der Willkür eines anderen (und so wechselseitig), als Bestimmungsgrund desselben zu einer Tat, zwar erst empirisch durch Erklärung und Gegenerklärung der Willkür eines jeden von beiden in der Zeit, als sinnlicher Bedingung der Apprehension, gedacht, wo beide rechtliche Akte immer nur auf einander folgen; weil jenes Verhältnis (als ein rechtliches) rein intellektuell ist, durch den Willen als ein gesetzgebendes Vernunftvermögen jener Besitz als ein intelligibeler (possessio noumenon) nach Freiheitsbegriffen mit Abstraktion von jenen empirischen Bedingungen[384] als das Mein oder Dein vorgestellt; wo beide Akte, des Versprechens und der Annehmung, nicht als aufeinander folgend, sondern (gleich als pactum re initum) aus einem einzigen gemeinsamen Willen hervorgehend (welches durch das Wort zugleich ausgedruckt wird) und der Gegenstand (promissum) durch Weglassung der empirischen Bedingungen nach dem Gesetz der reinen praktischen Vernunft als erworben vorgestellt wird.

Daß dieses die wahre und einzig mögliche Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag sei, wird durch die mühselige und doch immer vergebliche Bestrebung der Rechtsforscher (z.B. Moses Mendelssohns in seinem Jerusalem) zur Beweisführung jener Möglichkeit hinreichend bestätigt. – Die Frage war: warum soll ich mein Versprechen halten? Denn daß ich es soll, begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich, von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen; eben so, wie es für den Geometer unmöglich ist, durch Vernunftschlüsse zu beweisen, daß ich, um ein Dreieck zu machen, drei Linien nehmen müsse (ein analytischer Satz), deren zwei aber zusammengenommen größer sein müssen, als die dritte (ein synthetischer; beide aber a priori). Es ist ein Postulat der reinen (von allen sinnlichen Bedingungen des Raumes und der Zeit, was den Rechtsbegriff betrifft, abstrahierenden) Vernunft, und die Lehre der Möglichkeit der Abstraktion von jenen Bedingungen, ohne daß dadurch der Besitz desselben aufgehoben wird, ist selbst die Deduktion des Begriffs der Erwerbung durch Vertrag; so wie es in dem vorigen Titel die Lehre von der Erwerbung durch Bemächtigung der äußeren Sache war.


§ 20

Was ist aber das Äußere, das ich durch den Vertrag erwerbe? Da es nur die Kausalität der Willkür des anderen in Ansehung einer mir versprochenen Leistung ist, so erwerbe ich dadurch unmittelbar nicht eine äußere Sache, sondern[385] eine Tat desselben, dadurch jene Sache in meine Gewalt gebracht wird, damit ich sie zu der meinen mache. – Durch den Vertrag also erwerbe ich das Versprechen eines anderen (nicht das Versprochene) und doch kommt etwas zu meiner äußeren Habe hinzu; ich bin vermögender (locupletior) geworden, durch Erwerbung einer aktiven Obligation auf die Freiheit und das Vermögen des anderen. – Dieses mein Recht aber ist nur ein persönliches, nämlich gegen eine bestimmte physische Person, und zwar auf ihre Kausalität (ihre Willkür) zu wirken, mir etwas zu leisten, nicht ein Sachenrecht, gegen diejenige moralische Person, welche nichts anders als die Idee der a priori vereinigten Willkür aller ist, und wodurch ich allein ein Recht gegen jeden Besitzer derselben erwerben kann; als worin alles Recht in einer Sache besteht.

Die Übertragung des Meinen durch Vertrag geschieht nach dem Gesetz der Stetigkeit (lex continui), d.i. der Besitz des Gegenstandes ist während diesem Akt keinen Augenblick unterbrochen, denn sonst würde ich in diesem Zustande einen Gegenstand als etwas, das keinen Besitzer hat (res vacua), folglich ursprünglich erwerben; welches dem Begriff des Vertrages widerspricht. – Diese Stetigkeit aber bringt es mit sich, daß nicht eines von beiden (promittentis et acceptantis) besonderer, sondern ihr vereinigter Wille derjenige ist, welcher das Meine auf den anderen überträgt; also nicht auf die Art: daß der Versprechende zuerst seinen Besitz zum Vorteil des anderen verläßt (derelinquit), oder seinem Recht entsagt (renunciat) und der andere sogleich darin eintritt, oder umgekehrt. Die Translation ist also ein Akt, in welchem der Gegenstand einen Augenblick beiden zusammen angehört, so wie in der parabolischen Bahn eines geworfenen Steins dieser im Gipfel derselben einen Augenblick als im Steigen und Fallen zugleich begriffen betrachtet werden kann, und so allererst von der steigenden Bewegung zum Fallen übergeht.


§ 21

[386] Eine Sache wird in einem Vertrage nicht durch Annehmung (acceptatio) des Versprechens, sondern nur durch Übergabe (traditio) des Versprochenen erworben. Denn alles Versprechen geht auf eine Leistung, und wenn das Versprochene eine Sache ist, kann jene nicht anders errichtet werden, als durch einen Akt, wodurch der Promissar vom Promittenten in den Besitz derselben gesetzt wird; d.i. durch die Übergabe. Vor dieser also und dem Empfang ist die Leistung noch nicht geschehen; die Sache ist von dem einen zu dem anderen noch nicht übergegangen, folglich von diesem nicht erworben worden, mithin das Recht aus einem Vertrage nur ein persönliches, und wird nur durch die Tradition ein dingliches Recht.

Der Vertrag, auf den unmittelbar die Übergabe folgt (pactum re initum), schließt alle Zwischenzeit zwischen der Schließung und Vollziehung aus, und bedarf keines besonderen noch zu erwartenden Akts, wodurch das Seine des einen auf den anderen übertragen wird. Aber, wenn zwischen jenen beiden noch eine (bestimmte oder unbestimmte) Zeit zur Übergabe bewilligt ist, fragt sich: ob die Sache schon vor dieser durch den Vertrag das Seine des Akzeptanten geworden, und das Recht des letzteren ein Recht in der Sache sei, oder ob noch ein besonderer Vertrag, der allein die Übergabe betrifft, dazu kommen müsse, mithin das Recht durch die bloße Akzeptation nur ein persönliches sei, und allererst durch die Übergabe ein Recht in der Sache werde? – Daß es sich hiemit wirklich so, wie das letztere besagt, verhalte, erhellet aus nachfolgendem:

Wenn ich einen Vertrag über eine Sache, z.B. über ein Pferd, das ich erwerben will, schließe, und nehme es zugleich mit in meinen Stall, oder sonst in meinen physischen Besitz, so ist es mein (vi pacti re initi), und mein Recht ist ein Recht in der Sache; lasse ich es aber in den Händen des Verkäufers, ohne mit ihm darüber besonders auszumachen, in wessen physischem Besitz (Inhabung)[387] diese Sache vor meiner Besitznehmung (apprehensio), mithin vor dem Wechsel des Besitzes sein solle: so ist dieses Pferd noch nicht mein, und mein Recht, was ich erwerbe, ist nur ein Recht gegen eine bestimmte Person, nämlich den Verkäufer, von ihm in den Besitz gesetzt zu werden (poscendi traditionem), als subjektive Bedingung der Möglichkeit alles beliebigen Gebrauchs desselben, d.i. mein Recht ist nur ein persönliches Recht, von jenem die Leistung des Versprechens (praestatio), mich in den Besitz der Sache zu setzen, zu fordern. Nun kann ich, wenn der Vertrag nicht zugleich die Übergabe (als pactum re initum) enthält, mithin eine Zeit zwischen dem Abschluß desselben und der Besitznehmung des Erworbenen verläuft, in dieser Zeit nicht anders zum Besitz gelangen, als dadurch, daß ich einen besonderen rechtlichen, nämlich einen Besitzakt (actum possessorium) ausübe, der einen besonderen Vertrag ausmacht, und dieser ist: daß ich sage, ich werde die Sache (das Pferd) abholen lassen, wozu der Verkäufer einwilligt. Denn daß dieser eine Sache zum Gebrauche eines anderen auf eigene Gefahr in seine Gewahrsame nehmen werde, versteht sich nicht von selbst, sondern dazu gehört ein besonderer Vertrag, nach welchem der Veräußerer seiner Sache innerhalb der bestimmten Zeit noch immer Eigentümer bleibt (und alle Gefahr, die die Sache treffen möchte, tragen muß), der Erwerbende aber nur dann, wann er über diese Zeit zögert, von dem Verkäufer dafür angesehen werden kann, als sei sie ihm überliefert. Vor diesem Besitzakt ist also alles durch den Vertrag Erworbene nur ein persönliches Recht, und der Promissar kann eine äußere Sache nur durch Tradition erwerben.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 382-388.
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