Drittes Hauptstück.
Von der subjektiv-bedingten Erwerbung durch den Ausspruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit
§ 36

[412] Wenn unter Naturrecht nur das nicht-statutarische, mithin lediglich das a priori durch jedes Menschen Vernunft erkennbare Recht verstanden wird, so wird nicht bloß die zwischen Personen in ihrem wechselseitigen Verkehr unter einander geltende Gerechtigkeit (iustitia commutativa), sondern auch die austeilende (iustitia distributiva), so wie sie nach ihrem Gesetze a priori erkannt werden kann, daß sie ihren Spruch (sententia) fällen müsse, gleichfalls zum Naturrecht gehören.

Die moralische Person, welche der Gerechtigkeit vorsteht; ist der Gerichtshof (forum), und im Zustande ihrer Amtsführung, das Gericht (iudicium): alles nur nach Rechtsbedingungen a priori gedacht, ohne, wie eine solche Verfassung wirklich einzurichten und zu organisieren sei (wozu Statute, also empirische Prinzipien gehören), in Betrachtung zu ziehen.

Die Frage ist also hier nicht bloß, was ist an sich recht, wie nämlich hierüber ein jeder Mensch für sich zu urteilen habe, sondern, was ist vor einem Gerichtshofe recht, d.i.[412] was ist Rechtens? und da gibt es vier Fälle, wo beiderlei Urteile verschieden und entgegengesetzt ausfallen, und dennoch neben einander bestehen können; weil sie aus zwei verschiedenen, beiderseits wahren, Gesichtspunkten gefället werden: die eine nach dem Privatrecht, die andere nach der Idee des öffentlichen Rechts. – Sie sind: 1) der Schenkungsvertrag (pactum donationis). 2) Der Leihevertrag (commodatum). 3) Die Wiedererlangung (vindicatio). 4) Die Vereidigung (iuramentum).

Es ist ein gewöhnlicher Fehler der Erschleichung (vitium subreptionis) der Rechtslehrer, dasjenige rechtliche Prinzip, was ein Gerichtshof, zu seinem eigenen Behuf (also in subjektiver Absicht), anzunehmen befugt, ja sogar verbunden ist, um über jedes einem zustehende Recht zu sprechen und zu richten, auch objektiv, für das, was an sich selbst recht ist, zu halten: da das erstere doch von dem letzteren sehr unterschieden ist. – Es ist daher von nicht geringer Wichtigkeit, diese spezifische Verschiedenheit kennbar und darauf aufmerksam zu machen.




A. § 37. Von dem Schenkungsvertrag

Dieser Vertrag (donatio), wodurch ich das Mein, meine Sache (oder mein Recht) unvergolten (gratis) veräußere, enthält ein Verhältnis von mir, dem Schenkenden (donans), zu einem anderen, dem Beschenkten (donatarius), nach dem Privatrecht, wodurch das Meine auf diesen durch Annehmung des letzteren (donum) übergeht. – Es ist aber nicht zu präsumieren, daß ich hiebei gemeinet sei, zu der Haltung meines Versprechens gezwungen zu werden, und also auch meine Freiheit umsonst wegzugeben, und gleichsam mich selbst wegzuwerfen (nemo suum iactare praesumitur), welches doch nach dem Recht im bürgerlichen Zustande geschehen würde; denn da kann der Zubeschenkende mich zu Leistung des Versprechens zwingen. Es müßte also, wenn die Sache vor Gericht käme, d.i. nach einem öffentlichen Recht, entweder präsumiert werden, der[413] Verschenkende willigte zu diesem Zwange ein, welches ungereimt ist, oder der Gerichtshof sehe in seinem Spruch (Sentenz) gar nicht darauf, ob jener die Freiheit, von seinem Versprechen abzugehen, hat vorbehalten wollen, oder nicht, sondern auf das, was gewiß ist, nämlich das Versprechen und die Akzeptation des Promissars. Wenn also gleich der Promittent, wie wohl vermutet werden kann, gedacht hat, daß, wenn es ihn noch vor der Erfüllung gereuet, das Versprechen getan zu haben, man ihn daran nicht binden könne: so nimmt doch das Gericht an, daß er sich dieses ausdrücklich hätte vorbehalten müssen, und, wenn er es nicht getan hat, zu Erfüllung des Versprechens könne gezwungen werden, und dieses Prinzip nimmt der Gerichtshof darum an, weil ihm sonst das Rechtsprechen unendlich erschwert, oder gar unmöglich gemacht werden würde.


B. § 38. Vom Leihvertrag

In diesem Vertrage (commodatum), wodurch ich jemanden den unvergoltenen Gebrauch des Meinigen erlaube: wo, wenn dieses eine Sache ist, die Paziszenten darin übereinkommen, daß dieser mir eben dieselbe Sache wiederum in meine Gewalt bringe, kann der Empfänger des Geliehenen (commodatarius) nicht zugleich präsumieren, der Eigentümer desselben (commodans) nehme auch alle Gefahr (casus) des möglichen Verlustes der Sache, oder ihrer ihm nützlichen Beschaffenheit, über sich, der daraus, daß er sie in den Besitz des Empfängers gegeben hat, entspringen könnte. Denn es versteht sich nicht von selbst, daß der Eigentümer außer dem Gebrauch seiner Sache, den er dem Lehnsempfänger bewilligt (dem von demselben unzertrennlichen Abbruche derselben), auch die Sicherstellung wider allen Schaden, der ihm daraus entspringen kann, daß er sie aus seiner eigenen Gewahrsame gab, erlassen habe; sondern darüber müßte ein besonderer Vertrag gemacht werden. Es kann also nur die Frage sein; wem von beiden, dem Lehnsgeber oder Lehnsempfänger, es obliegt, die Bedingung der[414] Übernehmung der Gefahr, die der Sache zustoßen kann, dem Leihevertrag ausdrücklich beizufügen, oder, wenn das nicht geschieht, von wem man die Einwilligung zur Sicherstellung des Eigentums des Lehnsgebers (durch die Zurückgabe derselben oder ein Äquivalent) präsumieren könne? Von dem Darleiher nicht, weil man nicht präsumieren kann, er habe mehr umsonst eingewilligt, als den bloßen Gebrauch der Sache (nämlich nicht auch noch oben ein die Sicherheit des Eigentums selber zu übernehmen), aber wohl von dem Lehnsnehmer, weil er da nichts mehr leistet, als gerade im Vertrage enthalten ist.

Wenn ich, z.B. bei einfallendem Regen, in ein Haus eintrete, und erbitte mir einen Mantel zu leihen, der aber, etwa durch unvorsichtige Ausgießung abfärbender Materien aus dem Fenster, auf immer verdorben, oder, wenn er, indem ich ihn in einem anderen Hause, wo ich eintrete, ablege, mir gestohlen wird, so muß doch die Behauptung jedem Menschen als ungereimt auffallen, ich hätte nichts weiter zu tun, als jenen, so wie er ist, zurückzuschicken, oder den geschehenen Diebstahl nur zu melden; allenfalls sei es noch eine Höflichkeit, den Eigentümer dieses Verlustes wegen zu beklagen, da er aus seinem Recht nichts fordern könne. – Ganz anders lautet es, wenn ich bei der Erbittung dieses Gebrauchs zugleich auf den Fall, daß die Sache unter meinen Händen verunglückte, mir zum voraus erbäte, auch diese Gefahr zu übernehmen, weil ich arm und den Verlust zu ersetzen unvermögend wäre. Niemand wird das letztere überflüssig und lächerlich finden, außer etwa, wenn der Anleihende ein bekanntlich vermögender und wohldenkender Mann wäre, weil es alsdann beinahe Beleidigung sein würde, die großmütige Erfassung meiner Schuld in diesem Falle nicht zu präsumieren.


* * *


Da nun über das Mein und Dein aus dem Leihvertrage, wenn (wie es die Natur dieses Vertrages so mit sich bringt) über die mögliche Verunglückung (casus), die die Sache treffen möchte, nichts verabredet worden, er also, weil die[415] Einwilligung nur präsumiert worden, ein ungewisser Vertrag (pactum incertum) ist, das Urteil darüber, d.i. die Entscheidung, wen das Unglück treffen müsse, nicht aus den Bedingungen des Vertrages an sich selbst, sondern wie sie allein vor einem Gerichtshofe, der immer nur auf das Gewisse in jenem sieht (welches hier der Besitz der Sache als Eigentum ist), entschieden werden kann, so wird das Urteil im Naturzustande, d.i. nach der Sache innerer Beschaffenheit, so lauten: der Schade aus der Verunglückung einer geliehenen Sache fällt auf den Beliehenen (casum sentit commodatarius), dagegen im bürgerlichen, also vor einem Gerichtshofe, wird die Sentenz so ausfallen: der Schade fällt auf den Anleiher (casum sentit dominus), und zwar aus dem Grunde verschieden von dem Ausspruche der bloßen gesunden Vernunft, weil ein öffentlicher Richter sich nicht auf Präsumtionen von dem, was der eine oder andere Teil gedacht haben mag, einlassen kann, sondern der, welcher sich nicht die Freiheit von allem Schaden an der geliehenen Sache durch einen besonderen angehängten Vertrag ausbedungen hat, diesen selbst tragen muß. – Also ist der Unterschied zwischen dem Urteile, wie es ein Gericht fällen müßte, und dem, was die Privatvernunft eines jeden für sich zu fällen berechtigt ist, ein durchaus nicht zu übersehender Punkt in Berichtigung der Rechtsurteile.




C. § 39. Von der Wiedererlangung (Rückbemächtigung) des Verlornen (vindicatio)

Daß eine fortdauernde Sache, die mein ist, mein bleibe, ob ich gleich nicht in der fortdauernden Inhabung derselben bin, und von selbst ohne einen rechtlichen Akt (derelictionis vel alienationis) mein zu sein nicht aufhöre: und daß mir ein Recht in dieser Sache (ius reale), mithin gegen jeden Inhaber, nicht bloß gegen eine bestimmte Person (ius personale) zusteht, ist aus dem Obigen klar. Ob aber dieses Recht auch von jedem anderen, als ein für sich fortdauerndes Eigentum müsse angesehen werden, wenn ich demselben [416] nur nicht entsagt habe, und die Sache in dem Besitz eines anderen ist, das ist nun die Frage.

Ist die Sache mir abhanden gekommen (res amissa) und so von einem anderen auf ehrliche Art (bona fide), als ein vermeinter Fund, oder durch förmliche Veräußerung des Besitzers, der sich als Eigentümer führt, an mich gekommen, obgleich dieser nicht Eigentümer ist, so fragt sich, ob, da ich von einem Nichteigentümer (a non domino) eine Sache nicht erwerben kann, ich durch jenen von allem Recht in dieser Sache ausgeschlossen werde, und bloß ein persönliches gegen den unrechtmäßigen Besitzer übrig behalte. – Das letztere ist offenbar der Fall, wenn die Erwerbung bloß nach ihren inneren berechtigenden Gründen (im Naturzustande), nicht nach der Konvenienz eines Gerichtshofes beurteilt wird.

Denn alles Veräußerliche muß von irgend jemand können erworben werden. Die Rechtmäßigkeit der Erwerbung aber beruht gänzlich auf der Form, nach welcher das, was im Besitz eines anderen ist, auf mich übertragen und von mir angenommen wird, d.i. auf der Förmlichkeit des rechtlichen Akts des Verkehrs (commutatio) zwischen dem Besitzer der Sache und dem Erwerbenden, ohne daß ich fragen darf, wie jener dazu gekommen sei; weil dieses schon Beleidigung sein würde (quilibet praesumitur bonus, donec etc.). Gesetzt nun, es ergäbe sich in der Folge, daß jener nicht Eigentümer sei, sondern ein anderer, so kann ich nicht sagen, daß dieser sich gerade zu an mich halten könnte (so wie auch an jeden anderen, der Inhaber der Sache sein möchte). Denn ich habe ihm nichts entwandt, sondern, z.B. das Pferd, was auf öffentlichem Markte feil geboten wurde, dem Gesetze gemäß (titulo ernti venditi) erstanden; weil der Titel der Erwerbung meinerseits unbestritten ist, ich aber (als Käufer) den Titel des Besitzes des anderen (des Verkäufers) nachzusuchen – da diese Nachforschung in der aufsteigenden Reihe ins Unendliche gehen würde – nicht verbunden, ja so gar nicht einmal befugt bin. Also bin ich, durch den gehörigbetitelten Kauf, nicht der bloß putative, sondern der wahre Eigentümer des Pferdes geworden.[417]

Hierwider erheben sich aber folgende Rechtsgründe: Alle Erwerbung von einem, der nicht Eigentümer der Sache ist (a non domino), ist null und nichtig. Ich kann von dem Seinen eines anderen nicht mehr auf mich ableiten, als er selbst rechtmäßig gehabt hat, und, ob ich gleich, was die Form der Erwerbung (modus acquirendi) betrifft, ganz rechtlich verfahre, wenn ich ein gestohlen Pferd, was auf dem Markte feilsteht, erhandle, so fehlt doch der Titel der Erwerbung; denn das Pferd war nicht das Seine des eigentlichen Verkäufers. Ich mag immer ein ehrlicher Besitzer desselben (possessor bonae fidei) sein, so bin ich doch nur ein sich dünkender Eigentümer (dominus putativus) und der wahre Eigentümer hat ein Recht der Wiedererlangung (rem suam vindicandi).

Wenn gefragt wird, was (im Naturzustande) unter Menschen, nach Prinzipien der Gerechtigkeit im Verkehr derselben untereinander (iustitia commutativa) in Erwerbung äußerer Sachen an sich Rechtens sei, so muß man eingestehen: daß, wer dieses zur Absicht hat, durchaus nötig habe, noch nachzuforschen, ob die Sache, die er erwerben will, nicht schon einem anderen angehöre; nämlich, wenn er gleich die formalen Bedingungen der Ableitung der Sache von dem Seinen des anderen genau beobachtet (das Pferd auf dem Markte ordentlich erhandelt) hat, er dennoch höchstens nur ein persönliches Recht in Ansehung einer Sache (ius ad rem) habe erwerben können, so lange es ihm noch unbekannt ist, ob nicht ein anderer (als der Verkäufer) der wahre Eigentümer derselben sei; so daß, wenn sich einer vorfindet, der sein vorhergehendes Eigentum daran dokumentieren könnte, dem vermeinten neuen Eigentümer nichts übrig bliebe, als den Nutzen, so er, als ehrlicher Besitzer, bisher daraus gezogen hat, bis auf diesen Augenblick rechtmäßig genossen zu haben. – Da nun in der Reihe der von einander ihr Recht ableitenden sich dünkenden Eigentümer den schlechthin ersten (Stammeigentümer) auszufinden mehrenteils unmöglich ist: so kann kein Verkehr mit äußeren Sachen, so gut er auch mit den formalen Bedingungen dieser Art von Gerechtigkeit (iustitia[418] commutativa) übereinstimmen möchte, einen sicheren Erwerb gewähren.


* * *


Hier tritt nun wiederum die rechtlich-gesetzgebende Vernunft mit dem Grundsatz der distributiven Gerechtigkeit ein, die Rechtmäßigkeit des Besitzes, nicht wie sie an sich in Beziehung auf den Privatwillen eines jeden (im natürlichen Zustande), sondern nur wie sie vor einem Gerichtshofe, in einem durch den allgemein-vereinigten Willen entstandenen Zustande (in einem bürgerlichen) abgeurteilt werden würde, zur Richtschnur anzunehmen: wo alsdann die Übereinstimmung mit den formalen Bedingungen der Erwerbung, die an sich nur ein persönliches Recht begründen, zu Ersetzung der materialen Gründe (welche die Ableitung von dem Seinen eines vorhergehenden prätendierenden Eigentümers begründen) als hinreichend postuliert wird, und ein an sich persönliches Recht, vor einen Gerichtshof gezogen, als ein Sachenrecht gilt, z.B. daß das Pferd, was, auf öffentlichem, durchs Polizeigesetz geordneten Markt, jedermann feilsteht, wenn alle Regeln des Kaufs und Verkaufs genau beobachtet worden, mein Eigentum werde (so doch, daß dem wahren Eigentümer das Recht bleibt, den Verkäufer, wegen seines altern unverwirkten Besitzes, in Anspruch zu nehmen), und mein sonst persönliches Recht in ein Sachenrecht, nach welchem ich das Meine, wo ich es finde, nehmen (vindizieren) darf, verwandelt wird, ohne mich auf die Art, wie der Verkäufer dazu gekommen, einzulassen.

Es geschieht also nur zum Behuf des Rechtsspruchs vor einem Gerichtshofe (in favorem iustitiae distributivae), daß das Recht in Ansehung einer Sache nicht, wie es an sich ist (als ein persönliches), sondern wie es am leichtesten und sichersten abgeurteilt werden kann (als Sachenrecht), doch nach einem reinen Prinzip a priori, angenommen und behandelt werde. – Auf diesem gründen sich nun nachher verschiedene statutarische Gesetze (Verordnungen), die vorzüglich zur Absicht haben, die Bedingungen, unter denen allein eine Erwerbungsart rechtskräftig sein soll, so zu[419] stellen, daß der Richter das Seine einem jeden am leichtesten und unbedenklichsten zuerkennen könne: z.B. in dem Satz: Kauf bricht Miete, wo, was der Natur des Vertrags nach, d.i. an sich, ein Sachenrecht ist (die Miete), für ein bloß persönliches und umgekehrt, wie in dem obigen Fall, was an sich bloß ein persönliches Recht ist, für ein Sachenrecht gilt; wenn die Frage ist, auf welche Prinzipien ein Gerichtshof im bürgerlichen Zustande anzuweisen sei, um in seinen Aussprüchen, wegen des einem jeden zustehenden Rechts, am sichersten zu gehen.


D. § 40. Von Erwerbung der Sicherheit durch Eidesablegung (cautio iuratoria)

Man kann keinen anderen Grund angeben, der rechtlich Menschen verbinden könnte, zu glauben und zu bekennen, daß es Götter gebe, als den, damit sie einen Eid schwören, und durch die Furcht vor einer allsehenden obersten Macht, deren Rache sie feierlich gegen sich aufrufen mußten, im Fall, daß ihre Aussage falsch wäre, genötigt werden könnten, wahrhaft im Aussagen und treu im Versprechen zu sein. Daß man hiebei nicht auf die Moralität dieser beiden Stücke, sondern bloß auf einen blinden Aberglauben derselben rechnete, ist daraus zu ersehen, daß man sich von ihrer bloßen feierlichen Aussage vor Gericht in Rechtssachen keine Sicherheit versprach, ob gleich die Pflicht der Wahrhaftigkeit in einem Fall, wo es auf das Heiligste, was unter Menschen nur sein kann (aufs Recht der Menschen), an kommt, jedermann so klar einleuchtet, mithin bloße Märchen den Bewegungsgrund ausmachen: wie z.B. das unter den Rejangs, einem heidnischen Volk auf Sumatra, welche, nach Marsdens Zeugnis, bei den Knochen ihrer verstorbenen Anverwandten schwören, ob sie gleich gar nicht glauben, daß es noch ein Leben nach dem Tode gebe, oder der Eid der Guineaschwarzen bei ihrem Fetisch, etwa einer Vogelfeder, auf die sie sich vermessen, daß sie ihnen den Hals brechen solle u. dergl. Sie glauben, daß eine unsichtbare[420] Macht, sie mag nun Verstand haben oder nicht, schon ihrer Natur nach, diese Zauberkraft habe, die durch einen solchen Aufruf in Tat versetzt wird. – Ein solcher Glaube, dessen Name Religion ist, eigentlich aber Superstition heißen sollte, ist aber für die Rechtsverwaltung unentbehrlich, weil, ohne auf ihn zu rechnen, der Gerichtshof nicht genugsam im Stande wäre, geheim gehaltene Facta auszumitteln, und Recht zu sprechen. Ein Gesetz, das hiezu verbindet, ist also offenbar nur zum Behuf der richtenden Gewalt gegeben.

Aber nun ist die Frage: worauf gründet man die Verbindlichkeit, die jemand vor Gericht haben soll, eines anderen Eid als zu Recht gültigen Beweisgrund der Wahrheit seines Vorgebens anzunehmen, der allem Hader ein Ende mache, d.i. was verbindet mich rechtlich, zu glauben, daß ein anderer (der Schwörende) überhaupt Religion habe, um mein Recht auf seinen Eid ankommen zu lassen? Imgleichen umgekehrt: kann ich überhaupt verbunden werden, zu schwören? Beides ist an sich unrecht.

Aber in Beziehung auf einen Gerichtshof, also im bürgerlichen Zustande, wenn man annimmt, daß es kein anderes Mittel gibt, in gewissen Fällen hinter die Wahrheit zu kommen, als den Eid, muß von der Religion vorausgesetzt werden, daß sie jeder habe, um sie, als ein Notmittel (in casu necessitatis), zum Behuf des rechtlichen Verfahrens vor einem Gerichtshofe zu gebrauchen, welcher diesen Geisteszwang (tortura spiritualis) für ein behenderes und dem abergläubischen Hange der Menschen angemesseneres Mittel der Aufdeckung des Verborgenen, und sich darum für berechtigt hält, es zu gebrauchen. – Die gesetzgebende Gewalt handelt aber im Grunde unrecht, diese Befugnis der richterlichen zu erteilen; weil selbst im bürgerlichen Zustande ein Zwang zu Eidesleistungen der unverlierbaren menschlichen Freiheit zuwider ist.

Wenn die Amtseide, welche gewöhnlich promissorisch sind, daß man nämlich den ernstlichen Vorsatz habe, sein Amt pflichtmäßig zu verwalten, in assertorische verwandelt würden, daß nämlich der Beamte etwa zu Ende eines Jahres (oder mehrerer) verbunden[421] wäre, die Treue seiner Amtsführung während desselben zu beschwören; so würde dieses teils das Gewissen mehr in Bewegung bringen, als der Versprechungseid, welcher hinterher noch immer den inneren Vorwand übrig läßt, man habe, bei dem besten Vorsatz, die Beschwerden nicht voraus gesehen, die man nur nachher während der Amtsverwaltung erfahren habe, und die Pflichtübertretungen würden auch, wenn ihre Summierung durch Aufmerker bevorstände, mehr Besorgnis der Anklage wegen erregen, als wenn sie bloß eine nach der anderen (über welche die vorigen vergessen sind) gerügt würden. – Was aber das Beschwören des Glaubens (de credulitate) betrifft, so kann dieses gar nicht von einem Gericht verlangt werden. Denn erstlich enthält es in sich selbst einen Widerspruch: dieses Mittelding zwischen Meinen und Wissen, weil es so etwas ist, worauf man wohl zu wetten, keinesweges aber darauf zu schwören sich getrauen kann. Zweitens begeht der Richter, der solchen Glaubenseid dem Parten ansinnete, um etwas zu seiner Absicht Gehöriges, gesetzt es sei auch das gemeine Beste, auszumitteln, einen großen Verstoß an der Gewissenhaftigkeit des Eidleistenden, teils durch den Leichtsinn, zu dem er verleitet und wodurch der Richter seine eigene Absicht vereitelt, teils durch Gewissensbisse, die ein Mensch fühlen muß, der heute eine Sache, aus einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, sehr wahrscheinlich, morgen aber, aus einem anderen, ganz unwahrscheinlich finden kann, und lädiert also denjenigen, den er zu einer solchen Eidesleistung nötigt.


Übergang von dem Mein und Dein in Naturzustande zu dem im rechtlichen Zustande überhaupt
§ 41

Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen unter einander, welches die Bedingungen enthält,[422] unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit, welche in Beziehung, entweder auf die Möglichkeit, oder Wirklichkeit, oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen in die beschützende (iustitia tutatrix), die wechselseitig erwerbende (iustitia commutativa) und die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eingeteilt werden kann. – Das Gesetz sagt hiebei erstens bloß, welches Verhalten innerlich der Form nach recht ist (lex iusti); zweitens, was als Materie noch auch äußerlich gesetzfähig, d.i. dessen Besitzstand rechtlich ist (lex iuridica); drittens, was und wovon der Ausspruch vor einem Gerichtshofe in einem besonderen Falle unter dem gegebenen Gesetze diesem gemäß, d.i. Rechtens ist (lex iustitiae), wo man denn auch jenen Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes nennt, und, ob eine solche sei oder nicht sei, als die wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten gefragt werden kann.

Der nicht-rechtliche Zustand, d.i. derjenige, in welchem keine austeilende Gerechtigkeit ist, heißt der natürliche Zustand (status naturalis). Ihm wird nicht der gesellschaftliche Zustand (wie Achenwall meint), und der ein künstlicher (status artificialis) heißen könnte, sondern der bürgerliche (status civilis) einer unter einer distributiven Gerechtigkeit stehenden Gesellschaft entgegen gesetzt; denn es kann auch im Naturzustande rechtmäßige Gesellschaften (z.B. eheliche, väterliche, häusliche überhaupt und andere beliebige mehr) geben, von denen kein Gesetz a priori gilt: »du sollst in diesen Zustand treten«, wie es wohl vom rechtlichen Zustande gesagt werden kann, daß alle Menschen, die mit einander (auch unwillkürlich) in Rechtverhältnisse kommen können, in diesen Zustand treten sollen.

Man kann den ersteren und zweiten Zustand den des Privatrechts, den letzteren und dritten aber den des [423] öffentlichen Rechts nennen. Dieses enthält nicht mehr, oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden. Die Gesetze des letzteren betreffen also nur die rechtliche Form ihres Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze notwendig als öffentliche gedacht werden müssen.

Selbst der bürgerliche Verein (unio civilis) kann nicht wohl eine Gesellschaft genannt werden; denn zwischen dem Befehlshaber (imperans) und dem Untertan (subditus) ist keine Mitgenossenschaft; sie sind nicht Gesellen, sondern einander untergeordnet, nicht beigeordnet, und die sich einander beiordnen, müssen sich, eben deshalb, untereinander als gleich ansehen, so fern sie unter gemeinsamen Gesetzen stehen. Jener Verein ist also nicht sowohl als macht vielmehr eine Gesellschaft.


§ 42

Aus dem Privatrecht im natürlichen Zustande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins, mit allen anderen, aus jenem heraus, in einen rechtlichen Zustand, d.i. den einer austeilenden Gerechtigkeit, übergehen. – Der Grund davon läßt sich analytisch aus dem Begriffe des Rechts, im äußeren Verhältnis, im Gegensatz der Gewalt (violentia) entwickeln.

Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten. Er darf also nicht abwarten, bis er etwa durch eine traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt wird; denn was sollte ihn verbinden, allererst durch Schaden klug zu werden, da er die Neigung der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen (die Überlegenheit des Rechts anderer nicht zu achten, wenn sie sich, der Macht oder List nach, diesen überlegen fühlen) in sich selbst hinreichend wahrnehmen[424] kann, und es ist nicht nötig, die wirkliche Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit droht. (Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.)

Bei dem Vorsatze, in diesem Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit zu sein und zu bleiben, tun sie einander auch gar nicht unrecht, wenn sie sich untereinander befehden; denn was dem einen gilt, das gilt auch wechselseitig dem anderen, gleich als durch eine Übereinkunft (uti partes de iure suo disponunt, ita ius est): aber überhaupt tun sie im höchsten Grade daran unrecht7, in einem Zustande sein und bleiben zu wollen, der kein rechtlicher ist, d.i. in dem niemand des Seinen wider Gewalttätigkeit sicher ist.[425]

7

Dieser Unterschied zwischen dem, was bloß formaliter, und dem, was auch materialiter unrecht ist, hat in der Rechtslehre mannigfaltigen Gebrauch. Der Feind, der, statt seine Kapitulation mit der Besatzung einer belagerten Festung ehrlich zu vollziehen, sie bei dieser ihrem Auszuge mißhandelt, oder sonst diesen Vertrag bricht, kann nicht über Unrecht klagen, wenn sein Gegner bei Gelegenheit ihm denselben Streich spielt. Aber sie tun überhaupt im höchsten Grade unrecht, weil sie dem Begriff des Rechts selber alle Gültigkeit nehmen, und alles der wilden Gewalt, gleichsam gesetzmäßig, überliefern, und so das Recht der Menschen überhaupt umstürzen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 412-427.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp studienbibliothek)
Werkausgabe in 12 Bänden: VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Immanuel Kant Werkausgabe Band VIII: Die Metaphysik der Sitten

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon