Des öffentlichen Rechts dritter Abschnitt.
Das Weltbürgerrecht
§ 62

[475] Diese Vernunftidee einer friedlichen, wenngleich noch nicht freundschaftlichen, durchgängigen Gemeinschaft aller Völker auf Erden, die untereinander in wirksame Verhältnisse kommen können, ist nicht etwa philanthropisch (ethisch), sondern ein rechtliches Prinzip. Die Natur hat sie alle zusammen (vermöge der Kugelgestalt ihres Aufenthalts, als globus terraqueus) in bestimmte Grenzen eingeschlossen, und, da der Besitz des Bodens, worauf der Erdbewohner leben kann, immer nur als Besitz von einem Teil eines bestimmten Ganzen, folglich als ein solcher, auf den jeder derselben ursprünglich ein Recht hat, gedacht werden kann: so stehen alle Völker ursprünglich in einer Gemeinschaft[475] des Bodens, nicht aber der rechtlichen Gemeinschaft des Besitzes (communio) und hiemit des Gebrauchs, oder des Eigentums an denselben, sondern der physischen möglichen Wechselwirkung (commercium), d.i. in einem durchgängigen Verhältnisse, eines zu allen an deren, sich zum Verkehr untereinander anzubieten, und haben ein Recht, den Versuch mit demselben zu machen, ohne daß der Auswärtige ihm darum als einen Feind zu begegnen berechtigt wäre. – Dieses Recht, so fern es auf die mögliche Vereinigung aller Völker, in Absicht auf gewisse allgemeine Gesetze ihres möglichen Verkehrs, geht, kann das weltbürgerliche (ius cosmopoliticum) genannt werden.

Meere können Völker aus aller Gemeinschaft mit einander zu setzen scheinen, und dennoch sind sie, vermittelst der Schiffahrt, gerade die glücklichsten Naturanlagen zu ihrem Verkehr, welches, je mehr es einander nahe Küsten gibt (wie die des mittelländischen), nur desto lebhafter sein kann, deren Besuchung gleichwohl, noch mehr aber die Niederlassung auf denselben, um sie mit dem Mutterlande zu verknüpfen, zugleich die Veranlassung dazu gibt, daß Übel und Gewalttätigkeit, an einem Orte unseres Globs, an allen gefühlt wird. Dieser mögliche Mißbrauch kann aber das Recht des Erdbürgers nicht aufheben, die Gemeinschaft mit allen zu versuchen, und zu diesem Zweck alle Gegenden der Erde zu besuchen, wenn es gleich nicht ein Recht der Ansiedelung auf dem Boden eines anderen Volks (ius incolatus) ist, als zu welchem ein besonderer Vertrag erfordert wird.

Es fragt sich aber: ob ein Volk in neuentdeckten Ländern eine Anwohnung (accolatus) und Besitznehmung in der Nachbarschaft eines Volks, das in einem solchen Landstriche schon Platz genommen hat, auch ohne seine Einwilligung unternehmen dürfe? –

Wenn Anbauung in solcher Entlegenheit vom Sitz des ersteren geschieht, daß keines derselben im Gebrauch seines Bodens dem anderen Eintrag tut, so ist das Recht dazu nicht zu bezweifeln; wenn es aber Hirten- oder Jagdvölker[476] sind (wie die Hottentotten, Tungusen und die meisten amerikanischen Nationen), deren Unterhalt von großen öden Landstrecken abhängt, so würde dies nicht mit Gewalt, sondern nur durch Vertrag, und selbst dieser nicht mit Benutzung der Unwissenheit jener Einwohner in Ansehung der Abtretung solcher Ländereien, geschehen können; obzwar die Rechtfertigungsgründe scheinbar genug sind, daß eine solche Gewalttätigkeit zum Weltbesten gereiche; teils durch Kultur roher Völker (wie der Vorwand, durch den selbst Büsching die blutige Einführung der christlichen Religion in Deutschland entschuldigen will), teils zur Reinigung seines eigenen Landes von verderbten Menschen und gehoffter Besserung derselben, oder ihrer Nachkommenschaft, in einem anderen Weltteile (wie in Neuholland); denn alle diese vermeintlich gute Absichten können doch den Flecken der Ungerechtigkeit in den dazu gebrauchten Mitteln nicht abwaschen. – Wendet man hiegegen ein: daß, bei solcher Bedenklichkeit, mit der Gewalt den Anfang zu Gründung eines gesetzlichen Zustandes zu machen, vielleicht die ganze Erde noch in gesetzlosem Zustande sein würde: so kann das eben so wenig jene Rechtsbedingung aufheben, als der Vorwand der Staatrevolutionisten, daß es auch, wenn Verfassungen verunartet sind, dem Volk zustehe, sie mit Gewalt umzuformen, und überhaupt einmal für allemal ungerecht zu sein, um nachher die Gerechtigkeit desto sicherer zu gründen und aufblühen zu machen.


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Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 475-477.
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