I. Erörterung des Begriffs einer Tugendlehre

[508] Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nötigung (Zwang) der freien Willkür durchs Gesetz; dieser Zwang mag nun ein äußerer oder ein Selbstzwang sein. Der moralische Imperativ verkündigt, durch seinen kategorischen Ausspruch (das unbedingte Sollen) diesen Zwang, der also nicht auf vernünftige Wesen überhaupt (deren es etwa auch heilige geben könnte), sondern auf Menschen als vernünftige Naturwesen geht, die dazu unheilig genug sind, daß sie die Lust wohl anwandeln kann, das moralische Gesetz, ob sie gleich dessen Ansehen selbst anerkennen, doch zu übertreten und, selbst wenn sie es befolgen, es dennoch ungern (mit Widerstand ihrer Neigung) zu tun, als worin der Zwang eigentlich besteht.14[508]

Da aber der Mensch doch ein freies (moralisches) Wesen ist, so kann der Pflichtbegriff keinen anderen als den Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein) enthalten, wenn es auf die innere Willensbestimmung (die Triebfeder) angesehen ist, denn dadurch allein wird es möglich, jene Nötigung (selbst wenn sie eine äußere wäre) mit der Freiheit der Willkür zu vereinigen, wobei aber alsdann der Pflichtbegriff ein ethischer sein wird.

Die Antriebe der Natur enthalten also Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüt des Menschen und (zum Teil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft, nicht erst künftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urteilen muß: nämlich das zu können, was das Gesetz unbedingt befiehlt, daß er tun soll.

Nun ist das Vermögen und der überlegte Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner Widerstand zu tun, die Tapferkeit (fortitudo) und, in Ansehung des Gegners der sittlichen Gesinnung in uns, Tugend (virtus, fortitudo moralis). Also ist die allgemeine Pflichtenlehre in dem Teil, der nicht die äußere Freiheit, sondern die innere unter Gesetze bringt, eine Tugendlehre.

Die Rechtslehre hatte es bloß mit der formalen Bedingung der äußeren Freiheit (durch die Zusammenstimmung mit sich selbst, wenn ihre Maxime zum allgemeinen Gesetz gemacht wurde), d.i. mit dem Recht zu tun. Die Ethik dagegen gibt noch eine Materie (einen Gegenstand der freien Willkür), einen Zweck der reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck, d.i. für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand. – Denn, da die sinnlichen Neigungen zu Zwecken (als der Materie der Willkür) verleiten, die der Pflicht zuwider sein können, so[509] kann die gesetzgebende Vernunft ihrem Einfluß nicht anders wehren, als wiederum durch einen entgegengesetzten moralischen Zweck, der also von der Neigung unabhängig a priori gegeben sein muß.

Zweck ist ein Gegenstand der Willkür (eines vernünftigen Wesens), durch dessen Vorstellung diese zu einer Handlung, diesen Gegenstand hervorzubringen, bestimmt wird. – Nun kann ich zwar zu Handlungen, die als Mittel auf einen Zweck gerichtet sind, nie aber einen Zweck zu haben von anderen gezwungen werden, sondern ich kann nur selbst mir etwas zum Zweck machen. – Daß ich aber auch verbunden bin, mir irgend etwas, was in den Begriffen der praktischen Vernunft liegt, zum Zwecke zu machen, mithin, außer dem formalen Bestimmungsgrunde der Willkür (wie das Recht dergleichen enthält), noch einen materialen, einen Zweck zu haben, der dem Zweck aus sinnlichen Antrieben entgegengesetzt werden könne: dieses würde der Begriff von einem Zweck sein, der an sich selbst Pflicht ist; die Lehre desselben aber würde nicht zu der des Rechts, sondern zur Ethik gehören, als welche allein den Selbstzwang nach (moralischen) Gesetzen in ihrem Begriffe mit sich führt.

Aus diesem Grunde kann die Ethik auch als das System der Zwecke der reinen praktischen Vernunft definiert werden, – Zweck und Pflicht unterscheiden die zwei Abteilungen der allgemeinen Sittenlehre. Daß die Ethik Pflichten enthalte, zu deren Beobachtung man von andern nicht (physisch) gezwungen werden kann, ist bloß die Folge daraus, daß sie eine Lehre der Zwecke ist, weil dazu (sie zu haben) ein Zwang sich selbst widerspricht.

Daß aber die Ethik eine Tugendlehre (doctrina officiorum virtutis) sei, folgt aus der obigen Erklärung der Tugend, verglichen mit der Verpflichtung, deren Eigentümlichkeit so eben gezeiget worden. – Es gibt nämlich keine andere Bestimmung der Willkür, die durch ihren Begriff schon dazu geeignet wäre, von der Willkür anderer selbst physisch nicht gezwungen werden zu können, als nur die zu einem Zwecke. Ein anderer kann mich zwar zwingen, etwas zu tun, was nicht mein Zweck (sondern nur Mittel[510] zum Zweck eines anderen) ist, aber nicht dazu, daß ich es mir zum Zweck mache, und doch kann ich keinen Zweck haben, ohne ihn mir zu machen. Das letztere ist ein Widerspruch mit sich selbst; ein Akt der Freiheit, der doch zugleich nicht frei ist. – Aber sich selbst einen Zweck zu setzen, der zugleich Pflicht ist, ist kein Widerspruch; weil ich da mich selbst zwinge, welches mit der Freiheit gar wohl zusammen besteht.15 – Wie ist aber ein solcher Zweck möglich? das ist jetzt die Frage. Denn die Möglichkeit des Begriffs von einer Sache (daß er sich nicht widerspricht) ist noch nicht hinreichend dazu, um die Möglichkeit der Sache selbst (die objektive Realität des Begriffs) anzunehmen.

14

Der Mensch aber findet sich doch als moralisches Wesen zugleich, wenn er sich objektiv, wozu er durch seine reine praktische Vernunft bestimmt ist, (nach der Menschheit in seiner eigenen Person) betrachtet, heilig genug, um das innere Gesetz ungern zu übertreten; denn es gibt keinen so verruchten Menschen, der bei dieser Übertretung in sich nicht einen Widerstand fühlete und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß. – Das Phänomen nun: daß der Mensch auf diesem Scheidewege (wo die schöne Fabel den Herkules zwischen Tugend und Wohllust hinstellt) mehr Hang zeigt, der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben, zu erklären ist unmöglich: weil wir, was geschieht, nur erklären können, indem wir es von einer Ursache nach Gesetzen der Natur ableiten; wobei wir aber die Willkür nicht als frei denken würden. – Dieser wechselseitig entgegengesetzte Selbstzwang aber und die Unvermeidlichkeit desselben gibt doch die unbegreifliche Eigenschaft der Freiheit selbst zu erkennen.

15

Je weniger der Mensch physisch, je mehr er dagegen moralisch (durch die bloße Vorstellung der Pflicht) kann gezwungen werden, desto freier ist er. – Der, so, z.B., von genugsam fester Entschließung und starker Seele ist, eine Lustbarkeit, die er sich vorgenommen hat, nicht aufzugeben, man mag ihm noch so viel Schaden vorstellen, den er sich dadurch zuzieht, aber auf die Vorstellung, daß er hiebei eine Amtspflicht verabsäume, oder einen kranken Vater vernachlässige, von seinem Vorsatz unbedenklich, obzwar sehr ungern, absteht, beweist eben damit seine Freiheit im höchsten Grade, daß er der Stimme der Pflicht nicht widerstehen kann.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 508-511.
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