II. Erörterung des Begriffs von einem Zwecke, der zugleich Pflicht ist

[511] Man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf zweierlei Art denken: entweder, von dem Zwecke ausgehend, die Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder, umgekehrt, von dieser anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zugleich Pflicht ist. – Die Rechtslehre geht auf dem ersten Wege. Es wird jedermanns freier Willkür überlassen, welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle. Die Maxime derselben aber ist a priori bestimmt: daß nämlich die Freiheit des Handelnden mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen könne.

Die Ethik aber nimmt einen entgegengesetzten Weg. Sie kann nicht von den Zwecken ausgehen, die der Mensch sich setzen mag und darnach über seine zu nehmende Maximen,[511] d.i. über seine Pflicht, verfügen; denn das wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Vernunft allein seine Wurzel hat; wie denn auch, wenn die Maximen nach jenen Zwecken (welche alle selbstsüchtig sind) genommen werden sollten, vom Pflichtbegriff eigentlich gar nicht die Rede sein könnte. – Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf Zwecke leiten und die Maximen, in Ansehung der Zwecke, die wir uns setzen sollen, nach moralischen Grundsätzen begründen müssen.

Dahingestellt: was denn das für ein Zweck sei, der an sich selbst Pflicht ist, und wie ein solcher möglich sei, ist hier nur noch zu zeigen nötig, daß und warum eine Pflicht dieser Art den Namen einer Tugendpflicht führe.

Aller Pflicht korrespondiert ein Recht, als Befugnis (facultas moralis generatim) betrachtet, aber nicht aller Pflicht korrespondieren Rechte eines anderen (facultas iuridica), jemand zu zwingen; sondern diese heißen besonders Rechtspflichten. – Eben so korrespondiert aller ethischen Verbindlichkeit der Tugendbegriff, aber nicht alle ethische Pflichten sind darum Tugendpflichten. Diejenige nämlich sind es nicht, welche nicht sowohl einen gewissen Zweck (Materie, Objekt der Willkür), als bloß das Förmliche der sittlichen Willensbestimmung (z.B. daß die pflichtmäßige Handlung auch aus Pflicht geschehen müsse) betreffen. Nur ein Zweck, der zugleich Pflicht ist, kann Tugendpflicht genannt werden. Daher gibt es mehrere der letztern (auch verschiedene Tugenden); dagegen von der ersteren nur eine, aber für alle Handlungen gültige (tugendhafte Gesinnung), gedacht wird.

Die Tugendpflicht ist von der Rechtspflicht wesentlich darin unterschieden: daß zu dieser ein äußerer Zwang moralisch-möglich ist, jene aber auf dem freien Selbstzwange allein beruht. – Für endliche, heilige, Wesen (die zur Verletzung der Pflicht gar nicht einmal versucht werden können) gibt es keine Tugendlehre, sondern bloß Sittenlehre, welche letztere eine Autonomie der praktischen Vernunft ist, indessen daß die erstere zugleich eine Autokratie derselben,[512] d.i. ein, wenn gleich nicht unmittelbar wahrgenommenes, doch aus dem sittlichen kategorischen Imperativ richtig geschlossenes Bewußtsein des Vermögens enthält, über seine dem Gesetz widerspenstigen Neigungen Meister zu werden: so daß die menschliche Moralität in ihrer höchsten Stufe doch nichts mehr als Tugend sein kann; selbst wenn sie ganz rein (vom Einflusse aller fremdartigen Triebfeder als der der Pflicht völlig frei) wäre, da sie dann gemeiniglich als ein Ideal (dem man stets sich annähern müsse) unter dem Namen des Weisen dichterisch personifiziert wird.

Tugend ist aber auch nicht bloß als Fertigkeit und (wie die Preisschrift des Hofpred. Cochius sich ausdrückt) für eine lange, durch Übung erworbene, Gewohnheit moralisch-guter Handlungen zu erklären und zu würdigen. Denn wenn diese nicht eine Wirkung überlegter, fester und immer mehr geläuterter Grundsätze ist, so ist sie, wie ein jeder andere Mechanism aus technisch-praktischer Vernunft, weder auf alle Fälle gerüstet, noch vor der Veränderung, die neue Anlockungen bewirken können, hinreichend gesichert.


Anmerkung

Der Tugend = + a ist die negative Untugend (moralische Schwäche) = 0 als logisches Gegenteil (contradictorie oppositum), das Laster aber = – a als Widerspiel (contrarie s. realiter oppositum) entgegen gesetzt und es ist eine, nicht bloß unnötige, sondern auch anstößige Frage: ob zu großen Verbrechen nicht etwa mehr Stärke der Seele als selbst zu großen Tugenden gehöre. Denn unter Stärke der Seele verstehen wir die Stärke des Vorsatzes eines Menschen, als mit Freiheit begabten Wesens, mithin so fern er seiner selbst mächtig (bei Sinnen) ist, also im gesunden Zustande des Menschen. Große Verbrechen aber sind Paroxysmen, deren Anblick den an Seele gesunden Menschen schaudern macht. Die Frage würde also etwa dahin auslaufen: ob ein Mensch im Anfall einer Krankheit mehr physische Stärke haben könne, als wenn er bei Sinnen ist; welches[513] man einräumen kann, ohne ihm darum mehr Seelenstärke beizulegen, wenn man unter Seele das Lebensprinzip des Menschen im freien Gebrauch seiner Kräfte versteht. Denn, weil jene bloß in der Macht der die Vernunft schwächenden Neigungen ihren Grund haben, welches keine Seelenstärke beweiset, so würde diese Frage mit der ziemlich auf einerlei hinauslaufen: ob ein Mensch im Anfall einer Krankheit mehr Stärke als im gesunden Zustande beweisen könne, welche geradezu verneinend beantwortet werden kann, weil der Mangel der Gesundheit, die im Gleichgewicht aller körperlichen Kräfte des Menschen besteht, eine Schwächung im System dieser Kräfte ist, nach welchem man allein die absolute Gesundheit beurteilen kann.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 511-514.
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