V. Erläuterung dieser zwei Begriffe
A. Eigene Vollkommenheit

[516] Das Wort Vollkommenheit ist mancher Mißdeutung ausgesetzt. Es wird bisweilen als ein zur Transzendentalphilosophie gehörender Begriff der Allheit des Mannigfaltigen, was zusammengenommen ein Ding ausmacht, – dann aber auch, als zur Teleologie gehörend, so verstanden, daß es die Zusammenstimmung der Beschaffenheiten eines Dinges zu einem Zwecke bedeutet. Man könnte die Vollkommenheit in der ersteren Bedeutung die quantitative (materiale), in der zweiten die qualitative (formale) Vollkommenheit nennen. Jene kann nur eine sein (denn das All des einem Dinge Zugehörigen ist eins). Von dieser aber kann es in einem Dinge mehrere geben; und von der letzteren wird hier auch eigentlich gehandelt.

Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Menschheit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß, sie sich zum Zweck zu machen, an sich selbst Pflicht sei, so muß sie in demjenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner Tat sein kann, nicht was bloß Geschenk ist, das er der Natur verdanken muß; denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also nichts anders sein als Kultur seines Vermögens (oder der Naturanlage), in welchem der Verstand, als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren, die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch seines Willens (sittlicher Denkungsart), aller Pflicht überhaupt ein Gnüge zu tun. 1) Es ist ihm Pflicht: sich aus der Rohigkeit seiner[516] Natur, aus der Tierheit (quoad actum), immer mehr zur Menschheit, durch die er allein fähig ist, sich Zwecke zu setzen, empor zu arbeiten: seine Unwissenheit durch Belehrung zu ergänzen und seine Irrtümer zu verbessern, und dieses ist ihm nicht bloß die technisch-praktische Vernunft zu seinen anderweitigen Absichten (der Kunst) anrätig, sondern die moralisch-praktische gebietet es ihm schlechthin und macht diesen Zweck ihm zur Pflicht, um der Menschheit, die in ihm wohnt, würdig zu sein. 2) Die Kultur seines Willens bis zur reinesten Tugendgesinnung, da nämlich das Gesetz zugleich die Triebfeder seiner pflichtmäßigen Handlungen wird, zu erheben und ihm aus Pflicht zu gehorchen, welches innere moralisch-praktische Vollkommenheit ist, die, weil es ein Gefühl der Wirkung ist, welche der in ihm selbst gesetzgebende Wille auf das Vermögen ausübt, darnach zu handeln, das moralische Gefühl, gleichsam ein besonderer Sinn (sensus moralis), ist, der zwar freilich oft schwärmerisch, als ob er (gleich dem Genius des Sokrates) vor der Vernunft vorhergehe, oder auch ihr Urteil gar entbehren könne, mißbraucht wird, doch aber eine sittliche Vollkommenheit ist, jeden besonderen Zweck, der zugleich Pflicht ist, sich zum Gegenstande zu machen.


B. Fremde Glückseligkeit

Glückseligkeit, d.i. Zufriedenheit mit seinem Zustande, sofern man der Fortdauer derselben gewiß ist, sich zu wünschen und zu suchen ist der menschlichen Natur unvermeidlich; eben darum aber auch nicht ein Zweck, der zugleich Pflicht ist. – Da einige noch einen Unterschied zwischen einer moralischen und physischen Glückseligkeit machen (deren erstere in der Zufriedenheit mit seiner Person und ihrem eigenen sittlichen Verhalten, also mit dem was man tut, die andere mit dem was die Natur beschert, mithin was man als fremde Gabe genießt, bestehe): so muß man bemerken, daß, ohne den Mißbrauch des Worts hier zu rügen (das schon einen Widerspruch in sich enthält), die erstere Art zu empfinden allein zum vorigen Titel, nämlich dem der[517] Vollkommenheit, gehöre. – Denn der, welcher sich im bloßen Bewußtsein seiner Rechtschaffenheit glücklich fühlen soll, besitzt schon diejenige Vollkommenheit, die im vorigen Titel für denjenigen Zweck erklärt war, der zugleich Pflicht ist.

Wenn es also auf Glückseligkeit ankommt, worauf, als meinen Zweck, hinzuwirken es Pflicht sein soll, so muß es die Glückseligkeit anderer Menschen sein, deren (erlaubten) Zweck ich hiemit auch zu dem meinigen mache. Was diese zu ihrer Glückseligkeit zählen mögen, bleibt ihnen selbst zu beurteilen überlassen, nur daß mir auch zusteht, manches zu weigern, was sie dazu rechnen, was ich aber nicht dafür halte, wenn sie sonst kein Recht haben, es als das Ihrige von mir zu fordern. Jenem Zweck aber eine vorgebliche Verbindlichkeit entgegen zu setzen, meine eigene (physische) Glückseligkeit auch besorgen zu müssen, und so diesen meinen natürlichen und bloß subjektiven Zweck zur Pflicht (objektiven Zweck) machen, ist ein scheinbarer, mehrmals gebrauchter, Einwurf gegen die obige Einteilung der Pflichten (No. IV.) und bedarf einer Zurechtweisung.

Widerwärtigkeiten, Schmerz und Mangel sind große Versuchungen zu Übertretung seiner Pflicht. Wohlhabenheit, Stärke, Gesundheit und Wohlfahrt überhaupt, die jenem Einflüsse entgegen stehen, können also auch, wie es scheint, als Zwecke angesehen werden, die zugleich Pflicht sind; nämlich seine eigene Glückseligkeit zu befördern, und sie nicht bloß auf fremde zu richten. – Aber alsdenn ist diese nicht der Zweck, sondern die Sittlichkeit des Subjekts ist es, von welchem die Hindernisse wegzuräumen es bloß das erlaubte Mittel ist; da niemand anders ein Recht hat, von mir Aufopferung meiner nicht unmoralischen Zwecke zu fordern. Wohlhabenheit für sich selbst zu suchen ist direkt nicht Pflicht; aber indirekt kann es eine solche wohl sein: nämlich Armut, als eine große Versuchung zu Lastern, abzuwehren. Alsdann aber ist es nicht meine Glückseligkeit, sondern meine Sittlichkeit, deren Integrität zu erhalten mein Zweck und zugleich meine Pflicht ist.[518]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 516-519.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp studienbibliothek)
Werkausgabe in 12 Bänden: VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Immanuel Kant Werkausgabe Band VIII: Die Metaphysik der Sitten