VII. Die ethischen Pflichten sind von weiter, dagegen die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit

[520] Dieser Satz ist eine Folge aus dem vorigen; denn wenn das Gesetz nur die Maxime der Handlungen, nicht die Handlungen selbst, gebieten kann, so ist's ein Zeichen, daß es der Befolgung (Observanz) einen Spielraum (latitudo) für die freie Willkür überlasse, d.i. nicht bestimmt angeben könne, wie und wie viel durch die Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden solle. – Es wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Ausnahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere (z.B. die allgemeine Nächstenliebe durch die Elternliebe) verstanden, wodurch in der Tat das Feld für die Tugendpraxis erweitert wird. – Je weiter die Pflicht, je unvollkommener also die Verbindlichkeit des Menschen zur Handlung ist, je näher er gleichwohl die Maxime der Observanz derselben (in seiner Gesinnung) der engen Pflicht (des Rechts) bringt, desto vollkommener ist seine Tugendhandlung.

Die unvollkommenen Pflichten sind also allein Tugendpflichten. Die Erfüllung derselben ist Verdienst (meritum) = + a; ihre Übertretung aber ist nicht so fort Verschuldung (demeritum) = – a, sondern bloß moralischer Unwert = 0, außer, wenn es dem Subjekt Grundsatz wäre, sich jenen Pflichten nicht zu fügen. Die Stärke des Vorsatzes im ersteren heißt eigentlich allein Tugend (virtus), die Schwäche in der zweiten nicht sowohl Laster (vitium) als vielmehr bloß Untugend, Mangel an moralischer Stärke[520] (defectus moralis). (Wie das Wort Tugend von taugen, so stammt Untugend von zu nichts taugen.) Eine jede pflichtwidrige Handlung heißt Übertretung (peccatum). Die vorsätzliche aber, die zum Grundsatz geworden ist, macht eigentlich das aus, was man Laster (vitium) nennt.

Obzwar die Angemessenheit der Handlungen zum Rechte (ein rechtlicher Mensch zu sein) nichts Verdienstliches ist, so ist doch die der Maxime solcher Handlungen, als Pflichten, d.i. die Achtung fürs Recht verdienstlich. Denn der Mensch macht sich dadurch das Recht der Menschheit, oder auch der Menschen, zum Zweck und erweitert dadurch seinen Pflichtbegriff über den der Schuldigkeit (officium debiti); weil ein anderer aus seinem Rechte wohl Handlungen nach dem Gesetz, aber nicht, daß dieses auch zugleich die Triebfeder zu denselben enthalte, von mir fordern kann. Eben dieselbe Bewandtnis hat es auch mit dem allgemeinen ethischen Gebote: »handle pflichtmäßig, aus Pflicht«. Diese Gesinnung in sich zu gründen und zu beleben ist, so wie die vorige, verdienstlich; weil sie über das Pflichtgesetz der Handlungen hinaus geht, und das Gesetz, an sich, zugleich zur Triebfeder macht.

Aber eben darum müssen auch diese Pflichten zur weiten Verbindlichkeit gezählt werden, in Ansehung deren ein subjektives Prinzip ihrer ethischen Belohnung (und zwar, um sie dem Begriffe einer engen Verbindlichkeit so nahe als möglich zu bringen), d.i. der Empfänglichkeit derselben nach dem Tugendgesetze, statt findet, nämlich einer moralischen Lust, die über die bloße Zufriedenheit mit sich selbst (die bloß negativ sein kann) hinaus geht und von der man rühmt, daß die Tugend in diesem Bewußtsein ihr eigner Lohn sei.

Wenn dieses Verdienst ein Verdienst des Menschen um andere Menschen ist, ihren natürlichen und von allen Menschen dafür anerkannten Zweck zu befördern (ihre Glückseligkeit zu der seinigen zu machen), so könnte man dies das süße Verdienst nennen, dessen Bewußtsein einen moralischen Genuß verschafft, in welchem Menschen durch Mitfreude zu schwelgen geneigt sind; indessen daß das sauere Verdienst, anderer Menschen wahres Wohl, auch[521] wenn sie es für ein solches nicht erkenneten, (an Unerkenntlichen, Undankbaren) doch zu befördern, eine solche Rückwirkung gemeiniglich nicht hat, sondern nur Zufriedenheit mit sich selbst bewirkt, ob zwar es in letzterem Falle noch größer sein würde.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 520-522.
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