XIII. Allgemeine Grundsätze der Metaphysik der Sitten in Behandlung einer reinen Tugendlehre

[534] Erstlich: Für Eine Pflicht kann auch nur ein einziger Grund der Verpflichtung gefunden werden, und, werden zwei oder mehrere Beweise darüber geführt, so ist es ein sicheres Kennzeichen, daß man entweder noch gar keinen gültigen Beweis habe, oder es auch mehrere und verschiedne Pflichten sind, die man für Eine gehalten hat.

Denn alle moralische Beweise können, als philosophische, nur vermittelst einer Vernunfterkenntnis aus Begriffen, nicht, wie die Mathematik sie gibt, durch die Konstruktion der Begriffe geführt werden; die letztern verstatten Mehrheit[534] der Beweise eines und desselben Satzes; weil in der Anschauung a priori es mehrere Bestimmungen der Beschaffenheit eines Objekts geben kann, die alle auf eben denselben Grund zurück führen. – Wenn z.B. für die Pflicht der Wahrhaftigkeit ein Beweis, erstlich aus dem Schaden, den die Lüge andern Menschen verursacht, dann aber auch aus der Nichtswürdigkeit eines Lügners und der Verletzung der Achtung gegen sich selbst, geführt werden will, so ist im ersteren eine Pflicht des Wohlwollens, nicht eine der Wahrhaftigkeit, mithin nicht diese, von der man den Beweis verlangte, sondern eine andere Pflicht bewiesen worden. – Was aber die Mehrheit der Beweise für einen und denselben Satz betrifft, womit man sich tröstet, daß die Menge der Gründe den Mangel am Gewicht eines jeden einzeln genommen ergänzen werde, so ist dieses ein sehr unphilosophischer Behelf: weil er Hinterlist und Unredlichkeit verrät; – denn verschiedene unzureichende Gründe, neben einander gestellt, ergänzen nicht der eine den Mangel des anderen zur Gewißheit, ja nicht einmal zur Wahrscheinlichkeit. Sie müssen als Grund und Folge in einer Reihe, bis zum zureichenden Grunde, fortschreiten und können auch nur auf solche Art beweisend sein. – Und gleichwohl ist dies der gewöhnliche Handgriff der Überredungskunst.

Zweitens. Der Unterschied der Tugend vom Laster kann nie in Graden der Befolgung gewisser Maximen, sondern muß allein in der spezifischen Qualität derselben (dem Verhältnis zum Gesetz) gesucht werden; mit andern Worten, der belobte Grundsatz (des Aristoteles), die Tugend in dem Mittleren zwischen zwei Lastern zu setzen, ist falsch.17 Es sei z.B. gute Wirtschaft, als das Mittlere[535] zwischen zwei Lastern, Verschwendung und Geiz, gegeben: so kann sie als Tugend nicht durch die allmähliche Verminderung des ersten beider genannten Laster (Ersparung), noch durch die Vermehrung der Ausgaben, des dem letzteren Ergebenen, als entspringend vorgestellt werden: indem sie sich gleichsam nach entgegengesetzten Richtungen in der guten Wirtschaft begegneten: sondern eine jede derselben hat ihre eigene Maxime, die der andern notwendig widerspricht.

Eben so wenig und aus demselben Grunde kann kein Laster überhaupt durch eine größere Ausübung gewisser Absichten als es zweckmäßig ist (e. g. prodigalitas est excessus in consumendis opibus) oder durch die kleinere Bewirkung derselben, als sich schickt (e. g. avaritia est defectus etc.) erklärt werden. Denn, da hiedurch der Grad gar nicht bestimmt wird, auf diesen aber, ob das Betragen pflichtmäßig sei oder nicht, alles ankommt: so kann es nicht zur Erklärung dienen.

Drittens: die ethischen Pflichten müssen nicht nach den dem Menschen beigelegten Vermögen, dem Gesetz Gnüge zu leisten, sondern umgekehrt: das sittliche Vermögen muß nach dem Gesetz geschätzt werden, welches kategorisch gebietet; also nicht nach der empirischen Kenntnis, die wir vom Menschen haben, wie sie sind, sondern nach der rationalen, wie sie der Idee der Menschheit gemäß sein sollen. Diese drei Maximen der wissenschaftlichen Behandlung einer Tugendlehre sind den älteren Apophthegmen entgegengesetzt:

1) Es ist nur eine Tugend und nur ein Laster.

2) Tugend ist die Beobachtung der Mittelstraße zwischen entgegengesetzten Meinungen.

3) Tugend muß (gleich der Klugheit) der Erfahrung abgelernt werden.


Von der Tugend überhaupt

[536] Tugend bedeutet eine moralische Stärke des Willens. Aber dies erschöpft noch nicht den Begriff; denn eine solche Stärke könnte auch einem heiligen (übermenschlichen) Wesen zukommen, in welchem kein hindernder Antrieb dem Gesetze seines Willens entgegen wirkt; das also alles dem Gesetz gemäß gerne tut. Tugend ist also die moralische Stärke des Willens eines Menschen in Befolgung seiner Pflicht: welche eine moralische Nötigung durch seine eigene gesetzgebende Vernunft ist, insofern diese sich zu einer das Gesetz ausführenden Gewalt selbst konstituiert. – Sie ist nicht selbst, oder sie zu besitzen ist nicht Pflicht (denn sonst würde es eine Verpflichtung zur Pflicht geben müssen), sondern sie gebietet und begleitet ihr Gebot durch einen sittlichen (nach Gesetzen der inneren Freiheit möglichen) Zwang; wozu aber, weil er unwiderstehlich sein soll, Stärke erforderlich ist, deren Grad wir nur durch die Große der Hindernisse, die der Mensch durch seine Neigungen sich selber schafft, schätzen können. Die Laster, als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen, sind die Ungeheuer, die er nun zu bekämpfen hat: weshalb diese sittliche Stärke auch, als Tapferkeit (fortitudo moralis), die größte und einzige wahre Kriegsehre des Menschen ausmacht; auch wird sie die eigentliche, nämlich praktische Weisheit genannt: weil sie den Endzweck des Daseins der Menschen auf Erden zu dem ihrigen macht. – In ihrem Besitz ist der Mensch allein frei, gesund, reich, ein König u.s.w. und kann, weder durch Zufall, noch Schicksal einbüßen; weil er sich selbst besitzt und der Tugendhafte seine Tugend nicht verlieren kann.

Alle Hochpreisungen, die das Ideal der Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit betreffen, können durch die Beispiele des Widerspiels dessen, was die Menschen jetzt sind, gewesen sind, oder vermutlich künftig sein werden, an ihrer praktischen Realität nichts verlieren, und die Anthropologie, welche aus bloßen Erfahrungserkenntnissen hervorgeht, kann der Anthroponomie, welche von der unbedingt gesetzgebenden Vernunft aufgestellt wird, keinen[537] Abbruch tun und, wiewohl Tugend (in Beziehung auf Menschen, nicht aufs Gesetz) auch hin und wieder verdienstlich heißen und einer Belohnung würdig sein kann, so muß sie doch für sich selbst, so wie sie ihr eigener Zweck ist, auch als ihr eigener Lohn betrachtet werden.

Die Tugend, in ihrer ganzen Vollkommenheit betrachtet, wird also vorgestellt, nicht wie der Mensch die Tugend, sondern als ob die Tugend den Menschen besitze; weil es im ersteren Falle so aussehen würde, als ob er noch die Wahl gehabt hätte (wozu er als dann noch einer andern Tugend bedürfen würde, um die Tugend vor jeder anderer angebotenen Ware zu erlesen). – Eine Mehrheit der Tugenden sich zu denken (wie es denn unvermeidlich ist) ist nichts anderes, als sich verschiedne moralische Gegenstände denken, auf die der Wille aus dem einigen Prinzip der Tugend geleitet wird; eben so ist es mit den entgegenstehenden Lastern bewandt. Der Ausdruck, der beide verpersönlicht, ist eine ästhetische Maschinerie, die aber doch auf einen moralischen Sinn hinweiset. – Daher ist eine Ästhetik der Sitten zwar nicht ein Teil, aber doch eine subjektive Darstellung der Metaphysik derselben: wo die Gefühle, welche die nötigende Kraft des moralischen Gesetzes begleiten, jener ihre Wirksamkeit empfindbar machen (z.B. Ekel, Grauen etc., welche den moralischen Widerwillen versinnlichen), um der bloß-sinnlichen Anreizung den Vorrang abzugewinnen.

17

Die gewöhnlichen, der Sprache nach ethisch-klassische Formeln: medio tutissimus ibis; omne nimium vertitur in vitium; est modus in rebus, etc.; medium tenuere beati; insani sapiens nomen habeat etc., enthalten eine schale Weisheit, die gar keine bestimmte Prinzipien hat: denn dieses Mittlere zwischen zwei äußeren Enden, wer will mir es angeben? Der Geiz (als Laster) ist von der Sparsamkeit (als Tugend) nicht darin unterschieden, daß diese zu weit getrieben wird, sondern hat ein ganz anderes Prinzip (Maxime), nämlich den Zweck der Haushaltung nicht im Genuß seines Vermögens, sondern, mit Entsagung auf denselben, bloß im Besitz desselben zu setzen: so wie das Laster der Verschwendung nicht im Übermaße des Genusses seines Vermögens, sondern in der schlechten Maxime zu suchen ist, die den Gebrauch, ohne auf die Erhaltung desselben zu sehen, zum alleinigen Zweck macht.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 534-538.
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