XV. Zur Tugend wird zuerst erfordert die Herrschaft über sich selbst

[539] Affekten und Leidenschaften sind wesentlich von einander unterschieden; die erstern gehören zum Gefühl, so fern es, vor der Überlegung vorhergehend, diese selbst unmöglich oder schwerer macht. Daher heißt der Affekt jäh, oder jach (animus praeceps) und die Vernunft sagt durch den Tugendbegriff, man solle sich fassen; doch ist diese Schwäche[539] im Gebrauch seines Verstandes, verbunden mit der Stärke der Gemütsbewegung, nur eine Untugend und gleichsam etwas Kindisches und Schwaches, was mit dem besten Willen gar wohl zusammen bestehen kann, und das einzige Gute noch an sich hat, daß dieser Sturm bald aufhört. Ein Hang zum Affekt (z.B. Zorn) verschwistert sich daher nicht so sehr mit dem Laster, als die Leidenschaft. Leidenschaft dagegen ist die zur bleibenden Neigung gewordene sinnliche Begierde (z.B. der Haß im Gegensatz des Zorns). Die Ruhe, mit der ihr nachgehangen wird, läßt Überlegung zu und verstattet dem Gemüt, sich darüber Grundsätze zu machen und so, wenn die Neigung auf das Gesetzwidrige fällt, über sie zu brüten, sie tief zu wurzeln und das Böse dadurch (als vorsätzlich) in seine Maxime aufzunehmen; welches alsdann ein qualifiziertes Böse, d.i. ein wahres Laster ist.

Die Tugend also, so fern sie auf innerer Freiheit gegründet ist, enthält für die Menschen auch ein bejahendes Gebot, nämlich alle seine Vermögen und Neigungen unter seine (der Vernunft) Gewalt zu bringen, mithin der Herrschaft über sich selbst, welche über das Verbot, nämlich von seinen Gefühlen und Neigungen sich nicht beherrschen zu lassen, (der Pflicht der Apathie) hinzu kommt; weil, ohne daß die Vernunft die Zügel der Regierung in ihre Hände nimmt, jene über den Menschen den Meister spielen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 539-540.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Die Metaphysik der Sitten
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp studienbibliothek)
Werkausgabe in 12 Bänden: VII: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (suhrkamp taschenbuch wissenschaft)
Immanuel Kant Werkausgabe Band VIII: Die Metaphysik der Sitten