XVI. Zur Tugend wird Apathie (als Stärke betrachtet) notwendig vorausgesetzt

[540] Dieses Wort ist, gleich als ob es Fühllosigkeit, mithin subjektive Gleichgültigkeit in Ansehung der Gegenstände der Willkür, bedeutete, in übelen Ruf gekommen; man nahm es für Schwäche. Dieser Mißdeutung kann dadurch vorgebeugt werden, daß man diejenige Affektlosigkeit, welche von der Indifferenz zu unterscheiden ist, die moralische Apathie nennt: da die Gefühle aus sinnlichen Eindrücken ihren Einfluß auf das moralische nur dadurch verlieren, daß die Achtung fürs Gesetz über sie insgesamt mächtiger wird.[540] – Es ist nur die scheinbare Stärke eines Fieberkranken, die den lebhaften Anteil selbst am Guten bis zum Affekt steigen, oder vielmehr darin ausarten läßt. Man nennt den Affekt dieser Art Enthusiasm, und dahin ist auch die Mäßigung zu deuten, die man selbst für Tugendausübungen zu empfehlen pflegt (insani sapiens nomen habeat aequus iniqui – ultra, quam satis est virtutem si petat ipsam. Horat.). Denn sonst ist es ungereimt zu wähnen, man könne auch wohl allzuweise, allzutugendhaft sein. Der Affekt gehört immer zur Sinnlichkeit; er mag durch einen Gegenstand erregt werden, welcher es wolle. Die wahre Stärke der Tugend ist das Gemüt in Ruhe, mit einer überlegten und festen Entschließung, ihr Gesetz in Ausübung zu bringen. Das ist der Zustand der Gesundheit im moralischen Leben; dagegen der Affekt, selbst wenn er durch die Vorstellung des Guten aufgeregt wird, eine augenblicklich glänzende Erscheinung ist, welche Mattigkeit hinterläßt. – Phantastisch-tugendhaft aber kann doch der genannt werden, der keine in Ansehung der Moralität gleichgültige Dinge (adiaphora) einräumt und sich alle seine Schritte und Tritte mit Pflichten als mit Fußangeln bestreut und es nicht gleichgültig findet, ob ich mich mit Fleisch oder Fisch, mit Bier oder Wein, wenn mir beides bekömmt, nähre; eine Mikrologie, welche, wenn man sie in die Lehre der Tugend aufnähme, die Herrschaft derselben zur Tyrannei machen würde.


Anmerkung

Die Tugend ist immer im Fortschreiten und hebt doch auch immer von vorne an. – Das erste folgt daraus, weil sie, objektiv betrachtet, ein Ideal und unerreichbar, gleichwohl aber sich ihm beständig zu nähern dennoch Pflicht ist. Das zweite gründet sich, subjektiv, auf der mit Neigungen affizierten Natur des Menschen,[541] unter deren Einfluß die Tugend, mit ihren einmal für allemal genommenen Maximen, niemals sich in Ruhe und Stillstand setzen kann, sondern, wenn sie nicht im Steigen ist, unvermeidlich sinkt; weil sittliche Maximen nicht so, wie technische, auf Gewohnheit gegründet werden können (denn dieses gehört zur physischen Beschaffenheit seiner Willensbestimmung), sondern, selbst wenn ihre Ausübung zur Gewohnheit würde, das Subjekt damit die Freiheit in Nehmung seiner Maximen einbüßen würde, welche doch der Charakter einer Handlung aus Pflicht ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 540-542.
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