XVII. Vorbegriffe zur Einteilung der Tugendlehre

[542] Dieses Prinzip der Einteilung muß erstlich, was das Formale betrifft, alle Bedingungen enthalten, welche dazu dienen, einen Teil der allgemeinen Sittenlehre von der Rechtslehre und zwar der spezifischen Form nach zu unterscheiden, und das geschieht dadurch: daß 1) Tugendpflichten solche sind, für welche keine äußere Gesetzgebung statt findet; 2) daß, da doch aller Pflicht ein Gesetz zum Grunde liegen muß, dieses in der Ethik ein Pflichtgesetz, nicht für die Handlungen, sondern bloß für die Maximen der Handlungen gegeben, sein kann; 3) daß (was wiederum aus diesem folgt) die ethische Pflicht als weite, nicht als enge Pflicht gedacht werden müsse.

Zweitens: was das Materiale anlangt, muß sie, nicht bloß als Pflichtlehre überhaupt, sondern auch als Zwecklehre aufgestellt werden: so, daß der Mensch so wohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen, sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist (die man Pflichten der Selbstliebe und Nächstenliebe zu nennen pflegt), welche Ausdrücke hier in uneigentlicher Bedeutung genommen werden; weil es zum Lieben direkt keine Pflicht geben kann, wohl aber zu Handlungen, durch die der Mensch sich und andere zum Zweck macht.

Drittens: was die Unterscheidung des Materialen vom Formalen (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit)[542] im Prinzip der Pflicht betrifft, so ist zu merken: daß nicht jede Tugendverpflichtung (obligatio ethica) eine Tugendpflicht (officium ethicum s. virtutis) sei; mit anderen Worten: daß die Achtung vor dem Gesetze überhaupt noch nicht einen Zweck als Pflicht begründe; denn der letztere allein ist Tugendpflicht. – Daher gibt es nur eine Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten; weil es zwar viel Objekte gibt, die für uns Zwecke sind, welche zu haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung, als subjektiver Bestimmungsgrund, seine Pflicht zu erfüllen, welche sich auch über Rechtspflichten erstreckt, die aber darum nicht den Namen der Tugendpflichten führen können. – Daher wird alle Einteilung der Ethik nur auf Tugendpflichten gehen. Die Wissenschaft von der Art, auch ohne Rücksicht auf mögliche äußere Gesetzgebung verbindlich zu sein, ist die Ethik selbst, ihrem formalen Prinzip nach betrachtet.




Anmerkung

Wie komme ich aber dazu, wird man fragen, die Einteilung der Ethik in Elementarlehre und Methodenlehre einzuführen: da ich ihrer doch in der Rechtslehre überhoben sein konnte? – Die Ursache ist: weil jene es mit weiten, diese aber mit lauter engen Pflichten zu tun hat; weshalb die letztere, welche ihrer Natur nach strenge (präzis) bestimmend sein muß, eben so wenig wie die reine Mathematik einer allgemeinen Vorschrift (Methode), wie im Urteilen verfahren werden soll, bedarf, sondern sie durch die Tatwahr macht. – Die Ethik hingegen führt, wegen des Spielraums, den sie ihren unvollkommenen Pflichten verstattet, unvermeidlich dahin, zu Fragen, welche die Urteilskraft auffordern auszumachen, wie eine Maxime in besonderen Fällen anzuwenden sei, und zwar so: daß diese wiederum eine (untergeordnete) Maxime an die Hand gebe (wo immer wiederum nach einem Prinzip der Anwendung dieser auf vorkommende Fälle gefragt werden kann); und so gerät sie in eine Kasuistik, von welcher die Rechtslehre nichts weiß.[543]

Die Kasuistik ist also weder eine Wissenschaft, noch ein Teil derselben, denn das wäre Dogmatik, und ist nicht so wohl Lehre, wie etwas gefunden, sondern Übung, wie die Wahrheit solle gesucht werden. Fragmentarisch also, nicht systematisch (wie die erstere sein mußte) in sie verwebt, nur, gleich den Scholien, zum System hinzu getan.

Dagegen: nicht sowohl die Urteilskraft, als vielmehr die Vernunft und zwar in der Theorie seiner Pflichten sowohl als in der Praxis, zu üben, das gehört besonders zur Ethik, als Methodenlehre der moralischpraktischen Vernunft. Wovon die erstere Übung darin besteht, dem Lehrling dasjenige von Pflicht begriffen abzufragen, was er schon weiß, und die erotematische Methode genannt werden kann und dies zwar entweder, weil man es ihm schon gesagt hat, bloß aus seinem Gedächtnis, welche die eigentliche katechetische, oder weil man voraus setzt, daß es schon in seiner Vernunft natürlicherweise enthalten sei und es nur daraus entwickelt zu werden brauche, die dialogische (Sokratische) Methode heißt.

Der Katechetik als theoretischer Übung entspricht als Gegenstück, im Praktischen, die Asketik, welche derjenige Teil der Methodenlehre ist, in welchem nicht bloß der Tugendbegriff, sondern auch, wie das Tugendvermögen, so wohl als der Wille dazu, in Ausübung gesetzt und kultiviert werden könne, gelehrt wird.

Nach diesen Grundsätzen werden wir also das System in zweien Teilen: der ethischen Elementarlehre und der ethischen Methodenlehre aufstellen. Jeder Teil wird in seine Hauptstücke, welche, im ersten Teile, nach Verschiedenheit der Subjekte, wogegen dem Menschen eine Verbindlichkeit obliegt, im zweiten nach Verschiedenheit der Zwecke, welche zu haben ihm die Vernunft auferlegt, und der Empfänglichkeit für dieselbe, in verschiedenen Kapiteln zerfället werden.[544]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 542-545.
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