Zweites Hauptstück.
Die Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als einem moralischen Wesen

[562] Sie ist den Lastern: Lüge, Geiz und falsche Demut (Kriecherei) entgegen gesetzt.


1. Von der Lüge
§ 9

Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge (aliud lingua promptum, aliud pectore inclusum gerere). Daß eine jede vorsätzliche Unwahrheit in Äußerung seiner Gedanken diesen harten Namen (den sie in der Rechtslehre nur dann führt, wenn sie anderer Recht verletzt) in der Ethik, die aus der Unschädlichkeit kein Befugnis hernimmt, nicht ablehnen könne, ist für sich selbst klar. Denn Ehrlosigkeit (ein Gegenstand der moralischen Verachtung zu sein), welche sie begleitet, die begleitet auch den Lügner, wie sein Schatten. Die Lüge kann eine äußere (mendacium externum), oder auch eine innere sein. – Durch jene macht er sich in anderer, durch diese aber, was noch mehr ist, in seinen eigenen Augen zum Gegenstande der Verachtung, und verletzt die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person; wobei der Schade, der anderen Menschen daraus entspringen kann, nicht das Eigentümliche des Lasters betrifft (denn da bestände es bloß in der Verletzung der Pflicht gegen andere), und also hier nicht in Anschlag kommt, ja auch nicht der Schade, den er sich selbst zuzieht; denn alsdenn würde es bloß, als Klugheitsfehler, der pragmatischen, nicht der moralischen Maxime widerstreiten, und gar nicht als Pflichtverletzung angesehen werden können. – Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde. Ein Mensch, der[562] selbst nicht glaubt, was er einem anderen (wenn es auch eine bloß idealische Person wäre) sagt, hat einen noch geringeren Wert, als wenn er bloß Sache wäre; denn von dieser ihrer Eigenschaft, etwas zu nutzen, kann ein anderer doch irgend einen Gebrauch machen, weil sie etwas Wirkliches und Gegebenes ist; aber die Mitteilung seiner Gedanken an jemanden durch Worte, die doch das Gegenteil von dem (absichtlich) enthalten, was der Sprechende dabei denkt, ist ein der natürlichen Zweckmäßigkeit seines Vermögens der Mitteilung seiner Gedanken gerade entgegengesetzter Zweck, mithin Verzichttuung auf seine Persönlichkeit und eine bloß täuschende Erscheinung vom Menschen, nicht der Mensch selbst. – Die Wahrhaftigkeit in Erklärungen wird auch Ehrlichkeit, und, wenn diese zugleich Versprechen sind, Redlichkeit, überhaupt aber Aufrichtigkeit genannt.

Die Lüge (in der ethischen Bedeutung des Worts), als vorsätzliche Unwahrheit überhaupt, bedarf es auch nicht, anderen schädlich zu sein, um für verwerflich erklärt zu werden; denn da wäre sie Verletzung der Rechte anderer. Es kann auch bloß Leichtsinn, oder gar Gutmütigkeit, die Ursache davon sein, ja selbst ein wirklich guter Zweck dadurch beabsichtigt werden, so ist doch die Art, ihm nachzugehen, durch die bloße Form ein Verbrechen des Menschen an seiner eigenen Person, und eine Nichtswürdigkeit, die den Menschen in seinen eigenen Augen verächtlich machen muß.

Die Wirklichkeit mancher inneren Lüge, welche die Menschen sich zu Schulden kommen lassen, zu beweisen, ist leicht, aber ihre Möglichkeit zu erklären scheint doch schwerer zu sein; weil eine zweite Person dazu erforderlich ist, die man zu hintergehen die Absicht hat, sich selbst aber vorsätzlich zu betrügen einen Widerspruch in sich zu enthalten scheint.

Der Mensch, als moralisches Wesen (homo noumenon), kann sich selbst, als physisches Wesen (homo phaenomenon), nicht als bloßes Mittel (Sprachmaschine) brauchen, das an den inneren Zweck (der Gedankenmitteilung) nicht gebunden wäre, sondern ist an die Bedingung der Übereinstimmung mit der Erklärung (declaratio) des ersteren gebunden,[563] und gegen sich selbst zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. – Wenn er z.B. den Glauben an einen künftigen Weltrichter lügt, indem er wirklich keinen solchen in sich findet, aber, indem er sich überredet, es könne doch nicht schaden, wohl aber nutzen, einen solchen in Gedanken einem Herzenskündiger zu bekennen, um auf allen Fall seine Gunst zu erheucheln. Oder, wenn er zwar desfalls nicht im Zweifel ist, aber sich doch mit innerer Verehrung seines Gesetzes schmeichelt, da er doch keine andere Triebfeder, als die der Furcht vor Strafe, bei sich fühlt.

Unredlichkeit ist bloß Ermangelung an Gewissenhaftigkeit, d.i. an Lauterkeit des Bekenntnisses vor seinem inneren Richter, der als eine andere Person gedacht wird, wenn diese in ihrer höchsten Strenge betrachtet wird, wo ein Wunsch (aus Selbstliebe) für die Tat genommen wird, weil er einen an sich guten Zweck vor sich hat, und die innere Lüge, ob sie zwar der Pflicht des Menschen gegen sich selbst zuwider ist, erhält hier den Namen einer Schwachheit, so wie der Wunsch eines Liebhabers, lauter gute. Eigenschaften an seiner Geliebten zu finden, ihm ihre augenscheinliche Fehler unsichtbar macht. – Indessen verdient diese Unlauterkeit in Erklärungen, die man gegen sich selbst verübt, doch die ernstlichste Rüge: weil, von einer solchen faulen Stelle (der Falschheit, welche in der menschlichen Natur gewurzelt zu sein scheint) aus, das Übel der Unwahrhaftigkeit sich auch in Beziehung auf andere Menschen verbreitet, nachdem einmal der oberste Grundsatz der Wahrhaftigkeit verletzt worden. –


Anmerkung

Es ist merkwürdig, daß die Bibel das erste Verbrechen, wodurch das Böse in die Welt gekommen ist, nicht vom Brudermorde (Kains), sondern von der ersten Lüge datiert (weil gegen jenen sich doch die Natur empört), und als den Urheber alles Bösen den Lügner von Anfang und den Vater der Lügen nennt; wiewohl die Vernunft von diesem Hange der Menschen zur Gleisnerei (esprit fourbe), der[564] doch vorher gegangen sein muß, keinen Grund weiter angeben kann; weil ein Akt der Freiheit nicht (gleich einer physischen Wirkung) nach dem Naturgesetz des Zusammenhanges der Wirkung und ihrer Ursache, welche insgesamt Erscheinungen sind, deduziert und erklärt werden kann.


Kasuistische Fragen

Kann eine Unwahrheit aus bloßer Höflichkeit (z.B. das ganz gehorsamster Diener am Ende eines Briefes) für Lüge gehalten werden? Niemand wird ja dadurch betrogen. – Ein Autor fragt einen seiner Leser: wie gefällt Ihnen mein Werk? Die Antwort könnte nun zwar illusorisch gegeben werden, da man über die Verfänglichkeit einer solchen Frage spöttelte; aber wer hat den Witz immer bei der Hand? Das geringste Zögern, mit der Antwort, ist schon Kränkung des Verfassers; darf er diesem also zum Munde reden?

In wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein und Dein ankommt, wenn ich da eine Unwahrheit sage, muß ich alle die Folgen verantworten, die daraus entspringen möchten? Z.B. ein Hausherr hat befohlen: daß, wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen würde, er ihn verleugnen solle. Der Dienstbote tut dieses: veranlaßt aber dadurch, daß jener entwischt und ein großes Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld (nach ethischen Grundsätzen)? Allerdings auch auf den letzteren, welcher hier eine Pflicht gegen sich selbst durch eine Lüge verletzte; deren Folgen ihm nun durch sein eigen Gewissen zugerechnet werden.


II. Vom Geize
§ 10

Ich verstehe hier unter diesem Namen nicht den habsüchtigen Geiz (der Erweiterung seines Erwerbs der Mittel zum Wohlleben, über die Schranken des wahren Bedürfnisses); denn dieser kann auch als bloße Verletzung seiner Pflicht (der Wohltätigkeit) gegen andere betrachtet werden;[565] auch nicht den kargen Geiz, welcher, wenn er schimpflich ist, Knickerei oder Knauserei genannt wird, aber doch bloß Vernachlässigung seiner Liebespflichten gegen andere sein kann; sondern die Verengung seines eigenen Genusses der Mittel zum Wohlleben unter das Maß des wahren eigenen Bedürfnisses; dieser Geiz ist es eigentlich, der hier gemeint ist, welcher der Pflicht gegen sich selbst widerstreitet.

An der Rüge dieses Lasters kann man ein Beispiel von der Unrichtigkeit aller Erklärung, der Tugenden so wohl als Laster, durch den bloßen Grad, deutlich machen und zugleich die Unbrauchbarkeit des Aristotelischen Grundsatzes dartun: daß die Tugend in der Mittelstraße zwischen zwei Lastern bestehe.

Wenn ich nämlich zwischen Verschwendung und Geiz die gute Wirtschaft als das Mittlere ansehe, und dieses das Mittlere des Grades sein soll: so würde ein Laster in das (contrarie) entgegengesetzte Laster nicht anders übergehen, als durch die Tugend, und so würde diese nichts anders, als ein vermindertes, oder vielmehr verschwindendes Laster sein, und die Folge wäre in dem gegenwärtigen Fall: daß von den Mitteln des Wohllebens gar keinen Gebrauch zu machen die echte Tugendpflicht sei.

Nicht das Maß der Ausübung sittlicher Maximen, sondern das objektive Prinzip derselben, muß als verschieden erkannt und vorgetragen werden, wenn ein Laster von der Tugend unterschieden werden soll. – Die Maxime des habsüchtigen Geizes (als Verschwenders) ist: alle Mittel des Wohllebens in der Absicht auf den Genuß anzuschaffen und zu erhalten. – Die des kargen Geizes ist hingegen der Erwerb so wohl, als die Erhaltung aller Mittel des Wohllebens, aber ohne Absicht auf den Genuß (d.i. ohne daß dieser, sondern nur der Besitz der Zweck sei).

Also ist das eigentümliche Merkmal des letzteren Lasters der Grundsatz des Besitzes der Mittel zu allerlei Zwecken, doch mit dem Vorbehalt, keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung[566] des Zwecks gerade entgegengesetzt ist.19 Verschwendung und Kargheit sind also nicht durch den Grad, sondern spezifisch durch die entgegengesetzte Maximen von einander unterschieden.


Kasuistische Fragen

[567] Da hier nur von Pflichten gegen sich selbst die Rede ist und Habsucht (Unersättlichkeit im Erwerb), um zu verschwenden, eben so wohl als Knauserei (Peinlichkeit im Vertun), Selbstsucht (solipsismus) zum Grunde haben, und beide, die Verschwendung so wohl als die Kargheit, bloß darum verwerflich zu sein scheinen, weil sie auf Armut hinaus laufen, bei dem einen auf nicht erwartete, bei dem anderen auf willkürliche (armselig leben zu wollen), – so ist die Frage: ob sie, die eine so wohl als die andere, überhaupt Laster und nicht vielmehr beide bloße Unklugheit genannt werden sollen, mithin nicht ganz und gar außerhalb den Grenzen der Pflicht gegen sich selbst liegen mögen. Die Kargheit aber ist nicht bloß mißverstandene Sparsamkeit, sondern sklavische Unterwerfung seiner selbst unter die Glücksgüter, ihrer nicht Herr zu sein, welches Verletzung der Pflicht gegen sich selbst ist. Sie ist der Liberalität (liberalitas moralis) der Denkungsart überhaupt (nicht der Freigebigkeit (liberalitas sumtuosa), welche nur eine Anwendung derselben auf einen besonderen Fall ist), d.i. dem Prinzip der Unabhängigkeit von allem anderen, außer von dem Gesetz, entgegengesetzt, und Defraudation, die das Subjekt an sich selbst begeht. Aber was ist das für ein Gesetz, dessen innerer Gesetzgeber selbst nicht weiß, wo es anzuwenden ist? Soll ich meinem Munde abbrechen, oder nur dem äußeren Aufwande? im Alter oder schon in der Jugend? oder ist Sparsamkeit überhaupt eine Tugend?


III. Von der Kriecherei
§ 11

Der Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Tieren, als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Wert (pretium vulgare). Selbst, daß er vor diesen den Verstand voraus hat, und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Wert seiner[568] Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d.i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Tieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigem Wert hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Wert daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird.

Allein der Mensch als Person betrachtet, d.i. als Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich seihst zu schätzen, d.i. er besitzt eine Würde (einen absoluten innern Wert), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnötigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.

Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muß. Er kann und soll sich also, nach einem kleinen so wohl als großen Maßstabe, schätzen, nachdem er sich als Sinnenwesen (seiner tierischen Natur nach), oder als intelligibles Wesen (seiner moralischen Anlage nach) betrachtet. Da er sich aber nicht bloß als Person überhaupt, sondern auch als Mensch, d.i. als eine Person, die Pflichten auf sich hat, die ihm seine eigene Vernunft auferlegt, betrachten muß, so kann seine Geringfähigkeit als Tiermensch dem Bewußtsein seiner Würde als Vernunftmensch nicht Abbruch tun, und er soll die moralische Selbstschätzung in Betracht der letzteren nicht verleugnen, d.i. er soll sich um seinen Zweck, der an sich selbst Pflicht ist, nicht kriechend, nicht knechtisch (animo servili), gleich als sich um Gunst bewerbend, bewerben, nicht seine Würde verleugnen, sondern immer mit dem Bewußtsein der Erhabenheit seiner moralischen Anlage (welches im Begriff der Tugend schon enthalten ist); und diese Selbstschätzung ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.

Das Bewußtsein und Gefühl der Geringfähigkeit seines moralischen Werts in Vergleichung mit dem Gesetz[569] ist die Demut (humilitas moralis). Die Überredung von einer Größe dieses seinen Werts, aber nur aus Mangel der Vergleichung mit dem Gesetz, kann der Tugendstolz (arrogantia moralis) genannt werden. – Die Entsagung alles Anspruchs auf irgend einen moralischen Wert seiner selbst, in der Überredung, sich eben dadurch einen geborgten zu erwerben, ist die sittlich-falsche Kriecherei (humilitas spuria).

Demut in Vergleichung mit anderen Menschen (ja überhaupt mit irgend einem endlichen Wesen, und wenn es auch ein Seraph wäre) ist gar keine Pflicht; vielmehr ist die Bestrebung, in diesem Verhältnisse andern gleich zu kommen, oder sie zu übertreffen, mit der Überredung, sich dadurch auch einen inneren größeren Wert zu verschaffen, Hochmut (ambitio), welcher der Pflicht gegen andere gerade zuwider ist. Aber die bloß als Mittel, zu Erwerbung der Gunst eines an deren (wer es auch sei), ausgesonnene Herabsetzung seines eigenen moralischen Werts (Heuchelei und Schmeichelei)20 ist falsche (erlogene) Demut, und, als Abwürdigung seiner Persönlichkeit, der Pflicht gegen sich selbst entgegen.

Aus unserer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz (dessen Heiligkeit und Strenge) muß unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts (valor), nach welchem er für keinen Preis (pretium) feil ist, und eine unverlierbare Würde (dignitas interna) besitzt, die ihm Achtung (reverentia) gegen sich selbst einflößt.


§ 12

[570] Mehr oder weniger kann man diese Pflicht, in Beziehung auf die Würde der Menschheit in uns, mithin auch gegen uns selbst, in folgenden Beispielen kennbar machen.

Werdet nicht der Menschen Knechte. – Laßt euer Recht nicht ungeahndet von anderen mit Füßen treten. – Macht keine Schulden, für die ihr nicht volle Sicherheit leistet. – Nehmt nicht Wohltaten an, die ihr entbehren könnt, und seid nicht Schmarotzer, oder Schmeichler, oder gar (was freilich nur im Grad von dem Vorigen unterschieden ist) Bettler. Daher seid wirtschaftlich, damit ihr nicht bettelarm werdet. – Das Klagen und Winseln, selbst das bloße Schreien bei einem körperlichen Schmerz ist euer schon unwert, am meisten, wenn ihr euch bewußt seid, ihn selbst verschuldet zu haben: Daher die Veredlung (Abwendung der Schmach) des Todes eines Delinquenten durch die Standhaftigkeit, mit der er stirbt. – Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zuwider, so wie die Anrufung derselben in gegenwärtigen Bildern; denn ihr demütigt euch alsdann nicht unter einem Ideal, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol, was euer eigenes Gemächsel ist.




Kasuistische Fragen

Ist nicht in dem Menschen das Gefühl der Erhabenheit seiner Bestimmung, d.i. die Gemütserhebung (elatio animi), als Schätzung seiner selbst, mit dem Eigendünkel (arrogantia), welcher der wahren Demut (humilitas moralis) gerade entgegengesetzt ist, zu nahe verwandt, als daß zu jener aufzumuntern es ratsam wäre; selbst in Vergleichung mit anderen Menschen, nicht bloß mit dem Gesetz? oder würde diese Art von Selbstverleugnung nicht vielmehr den Ausspruch anderer bis zur Geringschätzung unserer Person steigern, und so der Pflicht (der Achtung) gegen uns selbst zuwider sein? Das Bücken und Schmiegen vor einem[571] Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein.

Die vorzügliche Achtungsbezeigung in Worten und Manieren, selbst gegen einen nicht Gebietenden in der bürgerlichen Verfassung – die Reverenzen, Verbeugungen (Komplimente), höfische – den Unterschied der Stände mit sorgfältiger Pünktlichkeit bezeichnende Phrasen, – welche von der Höflichkeit (die auch sich gleich Achtenden notwendig ist) ganz unterschieden sind, – das Du, Er, Ihr und Sie, oder Ew. Wohledlen, Hochedeln, Hochedelgebornen, Wohlgebornen (ohe, iam satis est!) in der Anrede – als in welcher Pedanterei die Deutschen unter allen Völkern der Erde (die indischen Kasten vielleicht ausgenommen) es am weitesten gebracht haben, sind das nicht Beweise eines ausgebreiteten Hanges zur Kriecherei unter Menschen? (Hae nugae in seria ducunt.) Wer sich aber zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, daß er mit Füßen getreten wird.

19

Der Satz: man soll keiner Sache zu viel oder zu wenig tun, sagt so viel als nichts; denn er ist tautologisch. Was heißt zu viel tun? Antw. Mehr als gut ist; was heißt zu wenig tun? Antw. Weniger tun als gut ist. Was heißt: ich soll (etwas tun oder unterlassen)? Antw. Es ist nicht gut (wider die Pflicht), mehr oder auch weniger zu tun, als gut ist. Wenn das die Weisheit ist, die zu erforschen wir zu den Alten (dem Aristoteles), gleich als solchen, die der Quelle näher waren, zurückkehren sollen; virtus consistit in medio, medium tenuere beati, est modus in rebus, sunt certi denique fines, quos ultra citraque nequit consistere rectum, so haben wir schlecht gewählt, uns an ihr Orakel zu wenden. Es gibt zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge (als contradictorie oppositis) kein Mittleres: aber wohl zwischen Offenherzigkeit und Zurückhaltung (als contrarie oppositis), da an dem, welcher seine Meinung erklärt, alles, was er sagt, wahr ist, er aber nicht die ganze Wahrheit sagt. Nun ist doch ganz natürlich von dem Tugendlehrer zu fordern, daß er mir dieses Mittlere anweise. Das kann er aber nicht; denn beide Tugendpflichten haben einen Spielraum der Anwendung (latitudinem) und, was zu tun sei, kann nur von der Urteilskraft, nach Regeln der Klugheit (den pragmatischen), nicht denen der Sittlichkeit (den moralischen), d.i. nicht als enge (officium strictum), sondern nur als weite Pflicht (officium latum) entschieden werden. Daher der, welcher die Grundsätze der Tugend befolgt, zwar in der Ausübung im Mehr oder Weniger, als die Klugheit vorschreibt, einen Fehler (peccatum) begehn, aber nicht darin, daß er diesen Grundsätzen mit Strenge anhänglich ist, ein Laster (vitium) ausüben, und Horazens Vers: insani sapiens nomen habeat aequus iniqui, ultra quam satis est virtutem si petat ipsam, ist, nach dem Buchstaben genommen, grundfalsch. Sapiens bedeutet hier wohl nur einen gescheuten Mann (prudens), der sich nicht phantastisch Tugendvollkommenheit denkt, die, als Ideal, zwar die Annäherung zu diesem Zwecke, aber nicht die Vollendung fordert, als welche Federung die menschlichen Kräfte übersteigt, und Unsinn (Phantasterei) in ihr Prinzip hinein bringt. Denn gar zu tugendhaft, d.i. seiner Pflicht gar zu anhänglich, zu sein, würde ohngefähr so viel sagen: als einen Zirkel gar zu rund, oder eine gerade Linie gar zu gerade machen.

20

Heucheln (eigentlich häuchlen) scheint vom ächzenden, die Sprache unterbrechenden Hauch (Stoßseufzer) abgeleitet zu sein, dagegen Schmeichlen vom Schmiegen, welches, als Habitus, Schmiegeln und endlich von den Hochdeutschen Schmeicheln genannt worden ist, abzustammen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 562-572.
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