Zweiter Abschnitt.
Die ethische Asketik
§ 53

[625] Die Regeln der Übung in der Tugend (exercitiorum virtutis) gehen auf die zwei Gemütsstimmungen hinaus, wackeren und fröhlichen Gemüts (animus strenuus et hilaris) in Befolgung ihrer Pflichten zu sein. Denn sie hat mit Hindernissen zu kämpfen, zu deren Überwältigung sie ihre Kräfte zusammen nehmen muß, und zugleich manche Lebensfreuden zu opfern, deren Verlust das Gemüt wohl bisweilen finster und mürrisch machen kann; was man aber nicht mit Lust, sondern bloß als Frohndienst tut, das hat für den, der hierin seiner Pflicht gehorcht, keinen inneren Wert und wird nicht geliebt, sondern die Gelegenheit ihrer Ausübung so viel möglich geflohen.

Die Kultur der Tugend, d.i. die moralische Asketik, hat, in Ansehung des Prinzips der rüstigen, mutigen und wackeren Tugendübung den Wahlspruch der Stoiker: gewöhne dich, die zufälligen Lebensübel zu ertragen und die eben so überflüssigen Ergötzlichkeiten zu entbehren (assuesce incommodis et desuesce commoditatibus vitae). Es ist eine Art von Diätetik für den Menschen, sich moralisch gesund zu erhalten. Gesundheit ist aber nur ein negatives[625] Wohlbefinden, sie selber kann nicht gefühlt werden. Es muß etwas dazu kommen, was einen angenehmen Lebensgenuß gewährt und doch bloß moralisch ist. Das ist das jederzeit fröhliche Herz in der Idee des tugendhaften Epikurs. Denn wer sollte wohl mehr Ursache haben, frohen Muts zu sein und nicht darin selbst eine Pflicht finden, sich in eine fröhliche Gemütsstimmung zu versetzen und sie sich habituell zu machen, als der, welcher sich keiner vorsätzlichen Übertretung bewußt und, wegen des Verfalls in eine solche, gesichert ist (hic murus ahenëus esto etc. Horat.). – Die Mönchsasketik hingegen, welche aus abergläubischer Furcht, oder geheucheltem Abscheu an sich selbst, mit Selbstpeinigung und Fleischeskreuzigung zu Werke geht, zweckt auch nicht auf Tugend, sondern auf schwärmerische Entsündigung ab, sich selbst Strafe aufzulegen und, anstatt sie moralisch (d.i. in Absicht auf die Besserung) zu bereuen, sie büßen zu wollen; welches, bei einer selbstgewählten und an sich vollstreckten Strafe (denn die muß immer ein anderer auflegen), ein Widerspruch ist, und kann auch den Frohsinn, der die Tugend begleitet, nicht bewirken, vielmehr nicht ohne geheimen Haß gegen das Tugendgebot statt finden. – Die ethische Gymnastik besteht also nur in der Bekämpfung der Naturtriebe, die das Maß erreicht, über sie bei vorkommenden, der Moralität Gefahr drohenden, Fällen Meister werden zu können; mithin die wacker und, im Bewußtsein seiner wiedererworbenen Freiheit, fröhlich macht. Etwas bereuen (welches bei der Rückerinnerung ehemaliger Übertretungen unvermeidlich, ja wobei diese Erinnerung nicht schwinden zu lassen es so gar Pflicht ist) und sich eine Pönitenz auferlegen (z.B. das Fasten), nicht in diätetischer, sondern frommer Rücksicht, sind zwei sehr verschiedene, moralisch gemeinte, Vorkehrungen, von denen die letztere, welche freudenlos, finster und mürrisch ist, die Tugend selbst verhaßt macht und ihre Anhänger verjagt. Die Zucht (Disziplin), die der Mensch an sich selbst verübt, kann daher nur durch den Frohsinn, der sie begleitet, verdienstlich und exemplarisch werden.[626]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 625-627.
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