Drittes Stück.

Der Sieg des guten Prinzips über das Böse, und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden

[751] Der Kampf, den ein jeder moralisch wohlgesinnter Mensch, unter der Anführung des guten Prinzips gegen die Anfechtungen des bösen, in diesem Leben bestehen muß, kann ihm, wie sehr er sich auch bemüht, doch keinen großem Vorteil verschaffen, als die Befreiung von der Herrschaft des letztern. Daß er frei, daß er »der Knechtschaft unter dem Sündengesetz entschlagen wird, um der Gerechtigkeit zu leben«, das ist der höchste Gewinn, den er erringen kann. Den Angriffen des letztern bleibt er nichts destoweniger noch immer ausgesetzt; und seine Freiheit, die beständig angefochten wird, zu behaupten, muß er forthin immer zum Kampfe gerüstet bleiben.

In diesem gefahrvollen Zustande ist der Mensch gleichwohl durch seine eigene Schuld; folglich ist er verbunden, soviel er vermag, wenigstens Kraft anzuwenden, um sich aus demselben herauszuarbeiten. Wie aber? das ist die Frage. – Wenn er sich nach den Ursachen und Umständen umsieht, die ihm diese Gefahr zuziehen und darin erhalten, so kann er sich leicht überzeugen, daß sie ihm nicht sowohl von seiner eigenen rohen Natur, sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen kommen, mit denen er in Verhältnis oder Verbindung steht. Nicht durch die Anreize der ersteren werden die eigentlich so zu benennende Leidenschaften in ihm rege, welche so große Verheerungen in seiner ursprünglich guten Anlage anrichten. Seine Bedürfnisse sind nur klein, und sein Gemütszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es[751] ist nicht einmal nötig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen. Wenn nun keine Mittel ausgefunden werden könnten, eine ganz eigentlich auf die Verhütung dieses Bösen und zu Beförderung des Guten im Menschen abzweckende Vereinigung, als eine bestehende, und sich immer ausbreitende, bloß auf die Erhaltung der Moralität angelegte Gesellschaft zu errichten, welche mit vereinigten Kräften dem Bösen entgegenwirkte, so würde dieses, so viel der einzelne Mensch auch getan haben möchte, um sich der Herrschaft desselben zu entziehen, ihn doch unabläßlich in der Gefahr des Rückfalls unter dieselbe erhalten. – Die Herrschaft des guten Prinzips, so fern Menschen dazu hinwirken können, ist also, so viel wir einsehen, nicht anders erreichbar, als durch Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen und zum Behuf derselben; einer Gesellschaft, die dem ganzen Menschengeschlecht in ihrem Umfange sie zu beschließen durch die Vernunft zur Aufgabe und zur Pflicht gemacht wird. – Denn so allein kann für das gute Prinzip über das Böse ein Sieg gehofft werden. Es ist von der moralischgesetzgebenden Vernunft außer den Gesetzen, die sie jedem einzelnen vorschreibt, noch überdem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln, und so allererst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu bekommen.

Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen, nach Vorschrift dieser Idee, eine ethische, und sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine ethischbürgerliche (im Gegensatz der rechtlichbürgerlichen) Gesellschaft, oder ein ethisches gemeines Wesen nennen. Dieses kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen, und sogar aus allen Gliedern desselben bestehen (wie es denn auch, ohne daß das letztere zum Grunde liegt, von[752] Menschen gar nicht zu Stande gebracht werden könnte). Aber jenes hat ein besonderes und ihm eigentümliches Vereinigungsprinzip (die Tugend), und daher auch eine Form und Verfassung, die sich von der des letztern wesentlich unterscheidet. Gleichwohl ist eine gewisse Analogie zwischen beiden, als zweier gemeinen Wesen überhaupt betrachtet, in Ansehung deren das erstere auch ein ethischer Staat, d.i. ein Reich der Tugend (des guten Prinzips) genannt werden kann, wovon die Idee in der menschlichen Vernunft ihre ganz wohl gegründete objektive Realität hat (als Pflicht, sich zu einem solchen Staate zu einigen), wenn es gleich subjektiv von dem guten Willen der Menschen nie gehofft werden könnte, daß sie zu diesem Zwecke mit Eintracht hinzuwirken sich entschließen würden.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 751-753.
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