Allgemeine Anmerkung.
Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in ihre Kraft

[694] Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein. Wenn es heißt: er ist gut geschaffen, so kann das nichts mehr bedeuten, als er ist zum Guten erschaffen, und die ursprüngliche Anlage im Menschen ist gut; der Mensch ist es selber dadurch noch nicht, sondern, nachdem er die Triebfedern, die diese Anlage enthält, in seine Maxime aufnimmt, oder nicht (welches seiner freien Wahl gänzlich überlassen sein muß), macht er, daß er gut oder böse wird. Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nötig,[694] so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d.i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, daß ihm das Gute zugerechnet, und er für einen guten Menschen erkannt werde.

Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen? Da aber doch nach dem vorher abgelegten Geständnisse ein ursprünglich (der Anlage nach) guter Baum arge Früchte hervorgebracht hat16 und der Verfall vom Guten ins Böse (wenn man wohl bedenkt, daß dieses aus der Freiheit entspringt) nicht begreiflicher ist, als das Wiederaufstehen aus dem Bösen zum Guten: so kann die Möglichkeit des letztern nicht bestritten werden. Denn, ungeachtet jenes Abfalls, erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können, sollte auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein, und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlichen höheren Beistandes empfänglich machen. – Freilich muß hiebei vorausgesetzt werden, daß ein Keim des Guten, in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte, welcher gewiß nicht die Selbstliebe17 sein kann; die, als Prinzip aller unserer Maximen angenommen, gerade die Quelle alles Bösen ist.[695]

Die Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns ist also nicht Erwerbung einer verlornen Triebfeder zum Guten; denn diese, die in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht, haben wir nie verlieren können, und wäre das letztere möglich, so würden wir sie auch nie wieder erwerben. Sie ist also nur die Herstellung der Reinigkeit desselben, als obersten Grundes aller unserer Maximen, nach welcher dasselbe nicht bloß mit andern Triebfedern verbunden, oder wohl gar diesen (den Neigungen) als Bedingungen untergeordnet, sondern in seiner ganzen Reinigkeit als für sich zureichende Triebfeder der Bestimmung der Willkür in dieselbe aufgenommen werden soll. Das ursprünglich Gute ist die Heiligkeit der Maximen in Befolgung seiner Pflicht; wodurch der Mensch, der diese Reinigkeit in seine Maxime aufnimmt, ob zwar darum noch nicht selbst heilig (denn zwischen der Maxime[696] und der Tat ist noch ein großer Zwischenraum), dennoch auf dem Wege dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern. Der zur Fertigkeit gewordene feste Vorsatz in Befolgung seiner Pflicht heißt auch Tugend, der Legalität nach als ihrem empirischen Charakter (virtus phaenomenon). Sie hat also die beharrliche Maxime gesetzmäßiger Handlungen; die Triebfeder, deren die Willkür hiezu bedarf, mag man nehmen, woher man wolle. Daher wird Tugend in diesem Sinne nach und nach erworben, und heißt einigen eine lange Gewohnheit (in Beobachtung des Gesetzes), durch die der Mensch vom Hange zum Laster durch allmähliche Reformen seines Verhaltens, und Befestigung seiner Maximen in einen entgegengesetzten Hang übergekommen ist. Dazu ist nun nicht eben eine Herzensänderung nötig; sondern nur eine Änderung der Sitten. Der Mensch findet sich tugendhaft, wenn er sich in Maximen,[697] seine Pflicht zu beobachten, befestigt fühlt: obgleich nicht aus dem obersten Grunde aller Maximen, nämlich aus Pflicht; sondern der Unmäßige z.B. kehrt zur Mäßigkeit um der Gesundheit, der Lügenhafte zur Wahrheit um der Ehre, der Ungerechte zur bürgerlichen Ehrlichkeit um der Ruhe oder des Erwerbs willen, u.s.w. zurück. Alle nach dem gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit. Daß aber jemand nicht bloß ein gesetzlich, sondern ein moralisch guter (Gott wohlgefälliger) Mensch, d.i. tugendhaft nach dem intelligiblen Charakter (virtus noumenon), werde, welcher, wenn er etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, als dieser Vorstellung der Pflicht selbst: das kann nicht durch allmähliche Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden; und er kann ein neuer Mensch, nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Ev. Joh. III, 5; verglichen mit 1. Mose I, 2), und Änderung des Herzens werden.

Wenn der Mensch aber im Grunde seiner Maximen verderbt ist, wie ist es möglich, daß er durch eigene Kräfte diese Revolution zu Stande bringe, und von selbst ein guter Mensch werde? Und doch gebietet die Pflicht, es zu sein, sie gebietet uns aber nichts, als was uns tunlich ist. Dieses ist nicht anders zu vereinigen, als daß die Revolution für die Denkungsart, die allmähliche Reform aber für die Sinnesart (welche jener Hindernisse entgegenstellt), notwendig, und daher auch dem Menschen möglich sein muß. Das ist: wenn er den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt (und hiemit einen neuen Menschen anzieht): so ist er so fern, dem Prinzip und der Denkungsart nach, ein fürs Gute empfängliches Subjekt; aber nur in kontinuierlichem Wirken und Werden ein guter Mensch: d.i. er kann hoffen, daß er bei einer solchen Reinigkeit des[698] Prinzips, welches er sich zur obersten Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen Fortschreitens vom Schlechten zum Bessern befinde. Dies ist für denjenigen, der den intelligibelen Grund des Herzens (aller Maximen der Willkür) durchschauet, für den also diese Unendlichkeit des Fortschritts Einheit ist, d.i. für Gott so viel, als wirklich ein guter (ihm gefälliger) Mensch sein; und in so fern kann diese Veränderung als Revolution betrachtet werden; für die Beurteilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Bessern, mithin als allmähliche Reform des Hanges zum Bösen, als verkehrter Denkungsart, anzusehen.

Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart, und von Gründung eines Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt, und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt. Nun ist selbst der eingeschränkteste Mensch des Eindrucks einer desto größeren Achtung für eine pflichtmäßige Handlung fähig, je mehr er ihr in Gedanken andere Triebfedern, die durch die Selbstliebe auf die Maxime der Handlung Einfluß haben könnten, entzieht; und selbst Kinder sind fähig, auch die kleinste Spur von Beimischung unechter Triebfedern aufzufinden: da denn die Handlung bei ihnen augenblicklich allen moralischen Wert verliert. Diese Anlage zum Guten wird dadurch, daß man das Beispiel selbst von guten Menschen (was die Gesetzmäßigkeit derselben betrifft) anführt, und seine moralischen Lehrlinge die Unlauterkeit mancher Maximen aus den wirklichen Triebfedern ihrer Handlungen beurteilen läßt, unvergleichlich kultiviert, und geht allmählich in die Denkungsart über: so daß Pflicht[699] bloß für sich selbst in ihren Herzen ein merkliches Gewicht zu bekommen anhebt. Allein tugendhafte Handlungen, so viel Aufopferung sie auch gekostet haben mögen, bewundern zu lehren, ist noch nicht die rechte Stimmung, die das Gemüt des Lehrlings fürs moralisch Gute erhalten soll. Denn so tugendhaft jemand auch sei, so ist doch alles, was er immer Gutes tun kann, bloß Pflicht; seine Pflicht aber tun, ist nichts mehr, als das tun, was in der gewöhnlichen sittlichen Ordnung ist, mithin nicht bewundert zu werden verdient. Vielmehr ist diese Bewunderung eine Abstimmung unsers Gefühls für Pflicht, gleich als ob es etwas Außerordentliches und Verdienstliches wäre, ihr Gehorsam zu leisten.

Aber eines ist in unserer Seele, welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo die Bewunderung rechtmäßig, zugleich auch seelenerhebend ist; und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt. – Was ist das (kann man sich selbst fragen) in uns, wodurch wir, von der Natur durch so viel Bedürfnisse beständig abhängige Wesen, doch zugleich über diese in der Idee einer ursprünglichen Anlage (in uns) so weit erhoben werden, daß wir sie insgesamt für nichts, und uns selbst des Daseins für unwürdig halten, wenn wir ihrem Genusse, der uns doch das Leben allein wünschenswert machen kann, einem Gesetze zuwider nachhängen sollten, durch welches unsere Vernunft mächtig gebietet, ohne doch dabei weder etwas zu verheißen noch zu drohen? Das Gewicht dieser Frage muß ein jeder Mensch von der gemeinsten Fähigkeit, der vorher von der Heiligkeit, die in der Idee der Pflicht liegt, belehrt worden, der sich aber nicht bis zur Nachforschung des Begriffes der Freiheit, welcher allererst aus diesem Gesetze hervorgeht,18 versteigt, innigst fühlen; und selbst die Unbegreiflichkeit dieser eine göttliche Abkunft verkündigenden Anlage muß auf das Gemüt bis zur Begeisterung[700] wirken, und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die Achtung für seine Pflicht nur auferlegen mag. Dieses Gefühl der Erhabenheit seiner moralischen Bestimmung öfter rege zu machen, ist als Mittel der Erweckung sittlicher Gesinnungen vorzüglich anzupreisen, weil es dem angebornen Hange zur Verkehrung der Triebfedern in den Maximen unserer Willkür gerade entgegen wirkt, um in der unbedingten Achtung fürs Gesetz, als der höchsten Bedingung aller zu nehmenden Maximen, die ursprüngliche[701] sittliche Ordnung unter den Triebfedern, und hiemit die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen, in ihrer Reinigkeit wieder herzustellen.

Aber dieser Wiederherstellung durch eigene Kraftanwendung steht ja der Satz von der angebornen Verderbtheit der Menschen für alles Gute gerade entgegen? Allerdings, was die Begreiflichkeit, d.i. unsere Einsicht von der Möglichkeit derselben betrifft, wie alles dessen, was als Begebenheit in der Zeit (Veränderung) und so fern nach Naturgesetzen als notwendig, und dessen Gegenteil doch zugleich unter moralischen Gesetzen, als durch Freiheit möglich vorgestellt werden soll; aber der Möglichkeit dieser Wiederherstellung selbst ist er nicht entgegen. Denn, wenn das moralische Gesetz [ gebietet, wir sollen jetzt bessere Menschen sein: so folgt unumgänglich, wir müssen es auch können. Der Satz vom angebornen Bösen ist in der moralischen Dogmatik von gar keinem Gebrauch: denn die Vorschriften derselben enthalten eben dieselben Pflichten, und bleiben auch in derselben Kraft, ob ein angeborner Hang zur Übertretung in uns sei, oder nicht. In der moralischen Asketik aber will dieser Satz mehr, aber doch nichts mehr sagen, als: wir können, in der sittlichen Ausbildung der anerschaffenen moralischen Anlage zum Guten, nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen, sondern müssen von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben, und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben. Da dieses nun bloß auf eine ins Unendliche hinausgehende Fortschreitung vom Schlechten zum Bessern führt, so folgt; daß die Umwandlung der Gesinnung des bösen in die eines guten Menschen in der Veränderung des obersten inneren Grundes der Annehmung aller seiner Maximen dem sittlichen Gesetze gemäß zu setzen sei, so fern dieser neue Grund (das neue Herz) nun selbst unveränderlich ist. Zur Überzeugung aber hievon kann nun zwar der Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittelbares Bewußtsein, noch durch den Beweis seines bis[702] dahin geführten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist; aber auf den Weg, der dahin führt, und der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird, muß er hoffen können, durch eigene Kraftanwendung zu gelangen: weil er ein guter Mensch werden soll, aber nur nach demjenigen, was ihm als von ihm selbst getan zugerechnet werden kann, als moralisch-gut zu beurteilen ist.

Wider diese Zumutung der Selbstbesserung bietet nun die zur moralischen Bearbeitung von Natur verdrossene Vernunft unter dem Vorwande des natürlichen Unvermögens allerlei unlautere Religionsideen auf (wozu gehört: Gott selbst das Glückseligkeitsprinzip zur obersten Bedingung seiner Gebote anzudichten). Man kann aber alle Religionen in die der Gunstbewerbung (des bloßen Kultus) und die moralische, d.i. die Religion des guten Lebenswandels, einteilen. Nach der erstern schmeichelt sich entweder der Mensch: Gott könne ihn wohl ewig glücklich machen, ohne daß er eben nötig habe, ein besserer Mensch zu werden (durch Erlassung seiner Verschuldungen); oder auch, wenn ihm dieses nicht möglich zu sein scheint: Gott könne ihn wohl zum besseren Menschen machen, ohne daß er selbst etwas mehr dabei zu tun habe, als darum zu bitten; welches, da es vor einem allsehenden Wesen nichts weiter ist, als wünschen, eigentlich nichts getan sein würde: denn wenn es mit dem bloßen Wunsch ausgerichtet wäre, so würde jeder Mensch gut sein. Nach der moralischen Religion aber (dergleichen unter allen öffentlichen, die es je gegeben hat, allein die christliche ist) ist es ein Grundsatz: daß ein jeder, so viel, als in seinen Kräften ist, tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angebornes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12-16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden. Auch ist es nicht schlechterdings notwendig, daß der Mensch wisse,[703] worin diese bestehe; vielleicht gar unvermeidlich, daß, wenn die Art, wie sie geschieht, zu einer gewissen Zeit offenbart worden, verschiedene Menschen zu einer andern Zeit sich verschiedene Begriffe, und zwar mit aller Aufrichtigkeit, davon machen würden. Aber alsdann gilt auch der Grundsatz: »Es ist nicht wesentlich, und also nicht jedermann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner Seligkeit tue, oder getan habe«; aber wohl, was er selbst zu tun habe, um dieses Beistandes würdig zu werden.19[704]

16

Der der Anlage nach gute Baum ist es noch nicht der Tat nach; denn wäre er es, so könnte er freilich nicht arge Früchte bringen; nur wenn der Mensch die für das moralische Gesetz in ihn gelegte Triebfeder in seine Maxime aufgenommen hat, wird er ein guter Mensch (der Baum schlechthin ein guter Baum) genannt.

17

Worte, die einen zwiefachen ganz verschiedenen Sinn annehmen können, halten öfters die Überzeugung aus den klarsten Gründen lange Zeit auf. Wie Liebe überhaupt, so kann auch Selbstliebe in die des Wohlwollens und des Wohlgefallens (benevolentiae et complacentiae) eingeteilt werden, auch beide müssen (wie sich von selbst versteht) vernünftig sein. Die erste in seine Maxime aufnehmen, ist natürlich (denn wer wird nicht wollen, daß es ihm jederzeit wohl ergehe?). Sie ist aber sofern vernünftig, als teils in Ansehung des Zwecks nur dasjenige, was mit dem größten und dauerhaftesten Wohlergehen zusammen bestehen kann, teils zu jedem dieser Bestandstücke der Glückseligkeit die tauglichsten Mittel gewählt werden. Die Vernunft vertritt hier nur die Stelle einer Dienerin der natürlichen Neigung; die Maxime aber, die man deshalb annimmt, hat gar keine Beziehung auf Moralität. Wird sie aber zum unbedingten Prinzip der Willkür gemacht: so ist sie die Quelle eines unabsehlich großen Widerstreits gegen die Sittlichkeit. – Eine vernünftige Liebe des Wohlgefallens an sich selbst kann nun entweder so verstanden werden, daß wir uns in jenen schon genannten auf Befriedigung der Naturneigung abzweckenden Maximen (so fern jener Zweck durch Befolgung derselben erreicht wird) wohlgefallen; und da ist sie mit der Liebe des Wohlgefallens gegen sich selbst einerlei; man gefällt sich selbst, wie ein Kaufmann, dem seine Handlungsspekulationen gut einschlagen, und der sich wegen der dabei genommenen Maximen seiner guten Einsicht erfreut. Allein die Maxime der Selbstliebe des unbedingten (nicht von Gewinn oder Verlust als den Folgen der Handlung abhängenden) Wohlgefallens an sich selbst würde das innere Prinzip einer, allein unter der Bedingung der Unterordnung unserer Maximen unter das moralische Gesetz, uns möglichen Zufriedenheit sein. Kein Mensch, dem die Moralität nicht gleichgültig ist, kann an sich ein Wohlgefallen haben, ja gar ohne ein bitteres Mißfallen, an sich selbst, sein, der sich solcher Maximen bewußt ist, die mit dem moralischen Gesetze in ihm nicht übereinstimmen. Man könnte diese die Vernunftliebe seiner selbst nennen, welche alle Vermischung anderer Ursachen der Zufriedenheit aus den Folgen seiner Handlungen (unter dem Namen einer dadurch sich zu verschaffenden Glückseligkeit) mit den Triebfedern der Willkür verhindert. Da nun das letztere die unbedingte Achtung fürs Gesetz bezeichnet, warum will man durch den Ausdruck einer vernünftigen, aber nur unter der letzteren Bedingung moralischen Selbstliebe sich das deutliche Verstehen des Prinzips unnötigerweise er schweren, indem man sich im Zirkel herumdreht (denn man kann sich nur auf moralische Art selbst lieben; soferne man sich seiner Maxime bewußt ist, die Achtung fürs Gesetz zur höchsten Triebfeder seiner Willkür zu machen)? Glückseligkeit ist, unserer Natur nach, für uns, als von Gegenständen der Sinnlichkeit abhängige Wesen, das erste und das, was wir unbedingt begehren. Eben dieselbe ist unserer Natur nach (wenn man überhaupt das, was uns angeboren ist, so nennen will), als mit Vernunft und Freiheit begabter Wesen, bei weitem nicht das erste, noch auch unbedingt ein Gegenstand unserer Maximen; sondern dieses ist die Würdigkeit glücklich zu sein, d.i. die Übereinstimmung aller unserer Maximen mit dem moralischen Gesetze. Daß diese nun objektiv die Bedingung sei, unter welcher der Wunsch der ersteren allein mit der gesetzgebenden Vernunft zusammenstimmen kann, darin besteht alle sittliche Vorschrift; und in der Gesinnung, auch nur so bedingt zu wünschen, die sittliche Denkungsart.

18

Daß der Begriff der Freiheit der Willkür nicht vor dem Bewußtsein des moralischen Gesetzes in uns vorhergehe, sondern nur aus der Bestimmbarkeit unserer Willkür durch dieses, als ein unbedingtes Gebot, geschlossen werde: davon kann man sich bald überzeugen, wenn man sich fragt: ob man auch gewiß unmittelbar sich eines Vermögens bewußt sei, jede noch so große Triebfeder zur Übertretung (Phalaris licet imperet ut sis falsus, et admoto dictet periuria tauro) durch festen Vorsatz überwältigen zu können. Jedermann wird gestehen müssen: er wisse nicht, ob, wenn ein solcher Fall einträte, er nicht in seinem Vorsatz wanken würde. Gleichwohl aber gebietet ihm die Pflicht unbedingt: er solle ihm treu bleiben; und hieraus schließt er mit Recht: er müsse es auch können, und seine Willkür sei also frei. Die, welche diese unerforschliche Eigenschaft als ganz begreiflich vorspiegeln, machen durch das Wort Determinismus (dem Satze der Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe) ein Blendwerk, gleich als ob die Schwierigkeit darin bestände, diesen mit der Freiheit zu vereinigen, woran doch niemand denkt; sondern: wie der Prädeterminism, nach welchem willkürliche Handlungen als Begebenheiten ihre bestimmende Gründe in der vorhergehenden Zeit haben (die, mit dem, was sie in sich hält, nicht mehr in unserer Gewalt ist), mit der Freiheit, nach welcher die Handlung sowohl als ihr Gegenteil in dem Augenblicke des Geschehens in der Gewalt des Subjekts sein muß, zusammen bestehen könne: das ist's, was man einsehen will, und nie einsehen wird.

Der Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem notwendigen Wesen, zu vereinigen hat gar keine Schwierigkeit; weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (daß sie gar nicht durch Gründe determiniert sei), d.i. nicht im Indeterminism (daß Gutes oder Böses zu tun Gott gleich möglich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminism Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin so, daß jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt; da dann, weil in Gott keine Zeitfolge zu denken ist, diese Schwierigkeit wegfällt.

19

Diese allgemeine Anmerkung ist die erste von den vieren, deren eine jedem Stück dieser Schrift angehängt ist, und welche die Aufschrift führen könnten: 1) von Gnadenwirkungen, 2) Wundern, 3) Geheimnissen, 4) Gnadenmitteln. – Diese sind gleichsam Parerga der Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft; sie gehören nicht innerhalb dieselben, aber stoßen doch an sie an. Die Vernunft im Bewußtsein ihres Unvermögens, ihrem moralischen Bedürfnis ein Genüge zu tun, dehnt sich bis zu überschwenglichen Ideen aus, die jenen Mangel ergänzen könnten, ohne sie doch als einen erweiterten Besitz sich zuzueignen. Sie bestreitet nicht die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Gegenstände derselben, aber kann sie nur nicht in ihre Maximen zu denken und zu handeln aufnehmen. Sie rechnet sogar darauf, daß, wenn in dem unerforschlichen Felde des Übernatürlichen noch etwas mehr ist, als sie sich verständlich machen kann, was aber doch zu Ergänzung des moralischen Unvermögens notwendig wäre, dieses ihrem guten Willen auch unerkannt zu statten kommen werde, mit einem Glauben, den man den (über die Möglichkeit desselben) reflektierenden nennen könnte, weil der dogmatische, dir sich als ein Wissen ankündigt, ihr unaufrichtig oder vermessen vorkommt; denn die Schwierigkeiten gegen das, was für sich selbst (praktisch) fest steht, wegzuräumen ist, wenn sie transzendente Fragen betreffen, nur ein Nebengeschäfte (Parergon). Was den Nachteil aus diesen, auch moralisch-transzendenten, Ideen anlangt, wenn wir sie in die Religion einführen wollten, so ist die Wirkung davon, nach der Ordnung der vier obbenannten Klassen: 1) der vermeinten inneren Erfahrung (Gnadenwirkungen) Schwärmerei, 2) der angeblichen äußeren Erfahrung (Wunder) Aberglaube, 3) der gewähnten Verstandeserleuchtung in Ansehung des Übernatürlichen (Geheimnisse) Illuminatism, Adeptenwahn, 4) der gewagten Versuche, aufs Übernatürliche hin zu wirken (Gnadenmittel), Thaumaturgie, lauter Verirrungen einer über ihre Schranken hinausgehenden Vernunft, und zwar in vermeintlich moralischer (gottgefälliger) Absicht. – Was aber diese allgemeine Anmerkung zum Ersten Stück gegenwärtiger Abhandlung besonders betrifft, so ist die Herbeirufung der Gnadenwirkungen von der letzteren Art und kann nicht in die Maximen der Vernunft aufgenommen werden, wenn diese sich innerhalb ihren Grenzen hält; wie überhaupt nichts Übernatürliches, weil gerade bei diesem aller Vernunftgebrauch aufhört. – Denn, sie theoretisch woran kennbar zu machen (daß sie Gnaden-, nicht innere Naturwirkungen sind) ist unmöglich, weil unser Gebrauch des Begriffs von Ursache und Wirkung über Gegenstände der Erfahrung, mithin über die Natur hinaus nicht erweitert werden kann; die Voraussetzung aber einer praktischen Benutzung dieser Idee ist ganz sich selbst widersprechend. Denn, als Benutzung würde sie eine Regel von dem voraussetzen, was wir (in gewisser Absicht) Gutes selbst zu tun haben, um etwas zu erlangen; eine Gnadenwirkung aber zu erwarten bedeutet gerade das Gegenteil, nämlich, daß das Gute (das moralische) nicht unsere, sondern die Tat eines andern Wesens sein werde, wir also sie durch Nichtstun allein erwerben können, welches sich widerspricht. Wir können sie also, als etwas Unbegreifliches, einräumen, aber sie, weder zum theoretischen noch praktischen Gebrauch, in unsere Maxime aufnehmen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 694-705,709.
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