IV. Vom Ursprunge des Bösen in der menschlichen Natur

[688] Ursprung (der erste) ist die Abstammung einer Wirkung von ihrer ersten, d.i. derjenigen Ursache, welche nicht wiederum Wirkung einer andern Ursache von derselben Art ist. Er kann entweder als Vernunft– oder als Zeitursprung in Betrachtung gezogen werden. In der ersten Bedeutung wird bloß das Dasein der Wirkung betrachtet; in der zweiten das Geschehen derselben, mithin sie als[688] Begebenheit auf ihre Ursache in der Zeit bezogen. Wenn die Wirkung auf eine Ursache, die mit ihr doch nach Freiheitsgesetzen verbunden ist, bezogen wird, wie das mit dem moralisch Bösen der Fall ist: so wird die Bestimmung der Willkür zu ihrer Hervorbringung nicht als mit ihrem Bestimmungsgrunde in der Zeit, sondern bloß in der Vernunftvorstellung, verbunden gedacht, und kann nicht von irgend einem vorhergehenden Zustande abgeleitet werden; welches dagegen allemal geschehen muß, wenn die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird. Von den freien Handlungen, als solchen, den Zeitursprung (gleich als von Naturwirkungen) zu suchen, ist also ein Widerspruch; mithin auch von der moralischen Beschaffenheit des Menschen, sofern sie als zufällig betrachtet wird, weil diese den Grund des Gebrauchs der Freiheit bedeutet, welcher (so wie der Bestimmungsgrund der freien Willkür überhaupt) lediglich in Vernunftvorstellungen gesucht werden muß.

Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen immer beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten, von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen, die unschicklichste: es sich, als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen, vorzustellen; denn man kann vom Moralisch-Bösen eben das sagen, was der Dichter vom Guten sagt: – Genus, et proavos, et quae non fecimus ipsi, vix ea nostra puto.13[689] Noch ist zu merken: daß, wenn wir dem Ursprunge des Bösen nachforschen, wir anfänglich noch nicht den Hang dazu (als peccatum in potentia) in Anschlag bringen, sondern nur das wirkliche Böse gegebener Handlungen, nach seiner innern Möglichkeit, und dem, was zur Ausübung derselben in der Willkür zusammenkommen muß, in Betrachtung ziehen.

Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie geraten wäre. Denn: wie auch sein voriges Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm anzutreffen sein: so ist seine Handlung doch frei, und durch keine dieser Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurteilt werden. Er sollte sie unterlassen haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein. Man sagt zwar mit Recht: dem Menschen werden auch die aus seinen ehemaligen freien, aber gesetzwidrigen Handlungen entspringenden Folgen zugerechnet; dadurch aber will man nur sagen: man habe nicht nötig, sich auf diese Ausflucht einzulassen, und auszumachen, ob die letztern frei sein mögen, oder nicht, weil schon in der geständlich freien Handlung, die ihre Ursache war, hinreichender Grund der[690] Zurechnung vorhanden ist. Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: er muß es also auch können, und ist, wenn er es nicht tut, der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so fähig und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen übergeschritten wäre. – Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge, sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser Tat fragen, um darnach den Hang, d.i. den subjektiven allgemeinen Grund der Aufnehmung einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu bestimmen, und wo möglich zu erklären.

Hiermit stimmt nun die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern, ganz wohl zusammen: indem sie ihn in einer Geschichte vorstellig macht, wo, was der Natur der Sache nach (ohne auf Zeitbedingung Rücksicht zu nehmen) als das Erste gedacht werden muß, als ein solches der Zeit nach erscheint. Nach ihr fängt das Böse nicht von einem zum Grunde liegenden Hange zu demselben an, weil sonst der Anfang desselben nicht aus der Freiheit entspringen würde; sondern von der Sünde (worunter die Übertretung des moralischen Gesetzes als göttlichen Gebots verstanden wird); der Zustand des Menschen aber, vor allem Hange zum Bösen, heißt der Stand der Unschuld. Das moralische Gesetz ging, wie es auch beim Menschen, als einem nicht reinen, sondern von Neigungen versuchten, Wesen sein muß, als Verbot voraus (1. Mose II, 16. 17). Anstatt nun diesem Gesetze, als hinreichender Triebfeder (die allein unbedingt gut ist, wobei auch weiter kein Bedenken statt findet), gerade zu folgen, sah sich der Mensch doch noch nach andern Triebfedern um (III, 6), die nur bedingterweise (nämlich, so fern[691] dem Gesetze dadurch nicht Eintrag geschieht) gut sein können, und machte es sich, wenn man die Handlung als mit Bewußtsein aus Freiheit entspringend denkt, zur Maxime, dem Gesetze der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen. Mithin fing er damit an, die Strenge des Gebots, welches den Einfluß jeder andern Triebfeder ausschließt, zu bezweifeln, hernach den Gehorsam gegen dasselbe zu einem bloß (unter dem Prinzip der Selbstliebe) bedingten eines Mittels herab zu vernünfteln;14 woraus dann endlich das Übergewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Gesetz in die Maxime zu handeln aufgenommen, und so gesündigt ward (III, 6). Mutato nomine de te fabula narratur. Daß wir es täglich eben so machen, mithin »in Adam alle gesündigt haben« und noch sündigen, ist aus dem Obigen klar; nur daß bei uns schon ein angeborner Hang zur Übertretung, in dem ersten Menschen aber kein solcher, sondern Unschuld, der Zeit nach, vorausgesetzt wird, mithin die Übertretung bei diesem ein Sündenfall heißt: statt daß sie bei uns, als aus der schon angebornen Bösartigkeit unserer Natur erfolgend, vorgestellt wird. Dieser Hang aber bedeutet nichts weiter, als daß, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen, seinem Zeitanfange nach, einlassen wollen, wir bei jeder vorsätzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten: welches bei dem ersten Menschen,[692] der schon mit völligem Vermögen seines Vernunftgebrauchs vorgestellt wird, nicht nötig, auch nicht tunlich ist; weil sonst jene Grundlage (der böse Hang) gar anerschaffen gewesen sein müßte; daher seine Sünde, unmittelbar als aus der Unschuld erzeugt, aufgeführt wird. – Wir müssen aber von einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet werden, keinen Zeitursprung suchen; so unvermeidlich dieses auch ist, wenn wir ihr zufälliges Dasein erklären wollen (daher ihn auch die Schrift, dieser unserer Schwäche gemäß, so vorstellig gemacht haben mag).

Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d.i. dieses Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen Maxime erfordern würde. Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne. – Diese Unbegreiflichkeit, zusamt der näheren Bestimmung der Bösartigkeit unserer Gattung drückt die Schrift in der Geschichtserzählung15 dadurch aus, daß sie das Böse, zwar im Weltanfange, doch noch nicht im Menschen, sondern in einem Geiste von ursprünglich erhabener Bestimmung voranschickt: wodurch also der erste[693] Anfang alles Bösen überhaupt als für uns unbegreiflich (denn woher bei jenem Geiste das Böse?), der Mensch aber nur als durch Verführung ins Böse gefallen, also nicht von Grund aus (selbst der ersten Anlage zum Guten nach) verderbt, sondern als noch einer Besserung fähig, im Gegensatze mit einem verführenden Geiste, d.i. einem solchen Wesen, dem die Versuchung des Fleisches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann, vorgestellt, und so dem ersteren, der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem er abgewichen ist, übrig gelassen wird.

13

Die drei sogenannten obern Fakultäten (auf hohen Schulen) würden, jede nach ihrer Art, sich diese Vererbung verständlich machen: nämlich, entweder als Erbkrankheit, oder Erbschuld, oder Erbsünde. 1) Die medizinische Fakultät würde sich das erbliche Böse etwa wie den Bandwurm vorstellen, von welchem wirklich einige Naturkündiger der Meinung sind, daß, da er sonst weder in einem Elemente außer uns, noch (von derselben Art) in irgend einem andern Tiere angetroffen wird, er schon in den ersten Eltern gewesen sein müsse. 2) Die Juristenfakultät würde es als die rechtliche Folge der Antretung einer uns von diesen hinterlassenen, aber mit einem schweren Verbrechen belasteten, Erbschaft ansehen (denn geboren werden ist nichts anders, als den Gebrauch der Güter der Erde, so fern sie zu unserer Fortdauer unentbehrlich sind, erwerben). Wir müssen also Zahlung leisten (büßen), und werden am Ende doch (durch den Tod) aus diesem Besitze geworfen. Wie recht ist von Rechts wegen! 3) Die theologische Fakultät würde dieses Böse als persönliche Teilnehmung unserer ersten Eltern an dem Abfall eines verworfenen Aufrührers ansehen; entweder daß wir (ob zwar jetzt dessen unbewußt) damals selbst mitgewirkt haben; oder nur jetzt, unter seiner (als Fürsten dieser Welt) Herrschaft geboren, uns die Güter derselben mehr, als den Oberbefehl des himmlischen Gebieters gefallen lassen, und nicht Treue genug besitzen, uns davon loszureißen, dafür aber künftig auch sein Los mit ihm teilen müssen.

14

Alle bezeugte Ehrerbietung gegen das moralische Gesetz, ohne ihm doch, als für sich hinreichender Triebfeder, in seiner Maxime das Übergewicht über alle andere Bestimmungsgründe der Willkür einzuräumen, ist geheuchelt, und der Hang dazu innere Falschheit, d.i. ein Hang, sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum Nachteil desselben selbst zu belügen (III, 5); weswegen auch die Bibel (christlichen Anteils) den Urheber des Bösen (der in uns selbst liegt) den Lügner von Anfang nennt, und so den Menschen in Ansehung dessen, was der Hauptgrund des Bösen in ihm zu sein scheint, charakterisiert.

15

Das hier Gesagte muß nicht dafür angesehen wer den, als ob es Schriftauslegung sein solle, welche außerhalb den Grenzen der Befugnis der bloßen Vernunft liegt. Man kann sich über die Art erklären, wie man sich einen historischen Vortrag moralisch zu Nutze macht, ohne darüber zu entscheiden, ob das auch der Sinn des Schriftstellers sei, oder wir ihn nur hineinlegen: wenn er nur für sich und ohne allen historischen Beweis wahr, dabei aber zugleich der einzige ist, nach welchen wir aus einer Schriftstelle für uns etwas zur Besserung ziehen können, die sonst nur eine unfruchtbare Vermehrung unserer historischen Erkenntnis sein würde. Man muß nicht ohne Not über etwas, und das historische Ansehen desselben streiten, was, ob es so, oder anders verstanden werde, nichts dazu beiträgt, ein besserer Mensch zu werden, wenn, was dazu beitragen kann, auch ohne historischen Beweis erkannt wird, und gar ohne ihn erkannt werden muß. Das historische Erkenntnis, welches keine innere für jedermann gültige Beziehung hierauf hat, gehört unter die Adiaphora, mit denen es jeder halten mag, wie er es für sich erbaulich findet.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 688-694.
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