Viertes Stück.

Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder von Religion und Pfaffentum

[819] Es ist schon ein Anfang der Herrschaft des guten Prinzips, und ein Zeichen, »daß das Reich Gottes zu uns komme«, wenn auch nur die Grundsätze der Konstitution desselben öffentlich zu werden anheben; denn das ist in der Verstandeswelt schon da, wozu die Gründe, die es allein bewirken können, allgemein Wurzel gefaßt haben, obschon die vollständige Entwickelung seiner Erscheinung in der Sinnenwelt noch in unabsehlicher Ferne hinausgerückt ist. Wir haben gesehen, daß zu einem ethischen gemeinen Wesen sich zu vereinigen eine Pflicht von besonderer Art (officium sui generis) sei, und daß, wenn gleich ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht, man daraus wohl eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten, auch ohne daß dazu noch besondere Veranstaltung nötig wäre, folgern könne, daß aber doch jene Zusammenstimmung aller nicht gehofft werden darf, wenn nicht aus der Vereinigung derselben mit einander zu eben demselben Zwecke und Errichtung eines gemeinen Wesens unter moralischen Gesetzen, als vereinigter und darum stärkerer Kraft, den Anfechtungen des bösen Prinzips (welchem Menschen zu Werkzeugen zu dienen sonst von einander selbst versucht werden) sich zu widersetzen, ein besonderes Geschäfte gemacht wird. – Wir haben auch gesehen, daß ein solches gemeines Wesen, als ein Reich Gottes, nur durch Religion von Menschen unternommen, und daß endlich, damit diese öffentlich sei (welches zu einem gemeinen Wesen erfordert wird), jenes in der sinnlichen Form einer Kirche vorgestellt werden könne, deren Anordnung also den Menschen als ein Werk, was ihnen überlassen ist, und von ihnen gefordert werden kann, zu stiften obliegt.

Eine Kirche aber, als ein gemeines Wesen nach Religionsgesetzen zu errichten, scheint mehr Weisheit (sowohl der[819] Einsicht als der guten Gesinnung nach) zu erfordern, als man wohl den Menschen zutrauen darf; zumal das moralische Gute, welches durch eine solche Veranstaltung beabsichtigt wird, zu diesem Behuf schon an ihnen vorausgesetzt werden zu müssen scheint. In der Tat ist es auch ein widersinnischer Ausdruck, daß Menschen ein Reich Gottes stiften sollten (so wie man von ihnen wohl sagen mag, daß sie ein Reich eines menschlichen Monarchen errichten können), Gott muß selbst der Urheber seines Reichs sein. Allem da wir nicht wissen, was Gott unmittelbar tue, um die Idee seines Reichs, in welchem Bürger und Untertanen zu sein wir die moralische Bestimmung in uns finden, in der Wirklichkeit darzustellen, aber wohl, was wir zu tun haben, um uns zu Gliedern desselben tauglich zu machen, so wird diese Idee, sie mag nun durch Vernunft oder durch Schrift im menschlichen Geschlecht erweckt und öffentlich geworden sein, uns doch zur Anordnung einer Kirche verbinden, von welcher im letzteren Fall Gott selbst, als Stifter, der Urheber der Konstitution, Menschen aber doch, als Glieder und freie Bürger dieses Reichs, in allen Fällen die Urheber der Organisation sind; da denn diejenigen unter ihnen, welche, der letztern gemäß, die öffentlichen Geschäfte derselben verwalten, die Administration derselben, als Diener der Kirche, so wie alle übrige eine ihren Gesetzen unterworfene Mitgenossenschaft, die Gemeinde ausmachen.

Da eine reine Vernunftreligion, als öffentlicher Religionsglaube nur die bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren) verstattet, und die sichtbare, die auf Satzungen gegründet ist, allein einer Organisation durch Menschen bedürftig und fähig ist: so wird der Dienst unter der Herrschaft des guten Prinzips in der ersten nicht als Kirchendienst angesehen werden können, und jene Religion hat keine gesetzliche Diener, als Beamte eines ethischen gemeinen Wesens; ein jedes Glied desselben empfängt unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber seine Befehle. Da wir[820] aber gleichwohl in Ansehung aller unserer Pflichten (die wir insgesamt zugleich als göttliche Gebote anzusehen haben) jederzeit im Dienste Gottes stehen, so wird die reine Vernunftreligion alle wohldenkende Menschen zu ihren Dienern (doch ohne Beamte zu sein) haben; nur werden sie so fern nicht Diener einer Kirche (einer sichtbaren nämlich, von der allein hier die Rede ist) heißen können. – Weil indessen jede auf statutarischen Gesetzen errichtete Kirche nur sofern die wahre sein kann, als sie in sich ein Prinzip enthält, sich dem reinen Vernunftglauben (als demjenigen, der, wenn er praktisch ist, in jedem Glauben eigentlich die Religion ausmacht) beständig zu nähern, und den Kirchenglauben (nachdem, was in ihm historisch ist) mit der Zeit entbehren zu können, so werden wir in diesen Gesetzen und an den Beamten der darauf gegründeten Kirche doch einen Dienst (cultus) der Kirche sofern setzen können, als diese ihre Lehren und Anordnung jederzeit auf jenen letzten Zweck (einen öffentlichen Religionsglauben) richten. Im Gegenteil werden die Diener einer Kirche, welche darauf gar nicht Rücksicht nehmen, vielmehr die Maxime der kontinuierlichen Annäherung zu demselben für verdammlich, die Anhänglichkeit aber an dem historischen und statutarischen Teil des Kirchenglaubens für allein seligmachend erklären, des Afterdienstes der Kirche, oder (dessen, was durch diese vorgestellt wird) des ethischen gemeinen Wesens unter der Herrschaft des guten Prinzips, mit Recht beschuldigt werden können. – Unter einem Afterdienst (cultus spurius) wird die Überredung, jemanden durch solche Handlungen zu dienen, verstanden, die in der Tat dieses seine Absicht rückgängig machen. Das geschieht aber in einem gemeinen Wesen dadurch, daß, was nur den Wert eines Mittels hat, um dem Willen eines Oberen Genüge zu tun, für dasjenige ausgegeben, und an die Stelle dessen gesetzt wird, was uns ihm unmittelbar wohlgefällig macht; wodurch dann die Absicht des letzteren vereitelt wird.[821]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 819-822.
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