Zweites Stück.

Von dem Kampf des guten Prinzips, mit dem Bösen, um die Herrschaft über den Menschen

[709] Daß, um ein moralisch guter Mensch zu werden, es nicht genug sei, den Keim des Guten, der in unserer Gattung liegt, sich bloß ungehindert entwickeln zu lassen, sondern auch eine in uns befindliche entgegenwirkende Ursache des Bösen zu bekämpfen sei, das haben, unter allen alten Moralisten, vornehmlich die Stoiker durch ihr Losungswort Tugend, welches (sowohl im Griechischen als Lateinischen) Mut und Tapferkeit bezeichnet, und also einen Feind voraussetzt, zu erkennen gegeben. In diesem Betracht ist der Name Tugend ein herrlicher Name, und es kann ihm nicht schaden, daß er oft prahlerisch gemißbraucht, und (so wie neuerlich das Wort Aufklärung) bespöttelt worden. – Denn den Mut auffordern, ist schon zur Hälfte so viel, als ihn einflößen; dagegen die faule sich selbst gänzlich mißtrauende und auf äußere Hülfe harrende kleinmütige Denkungsart (in Moral und Religion) alle Kräfte des Menschen abspannt, und ihn dieser Hülfe selbst unwürdig macht.

Aber jene wackern Männer verkannten doch ihren Feind, der nicht in den natürlichen bloß undisziplinierten, sich aber unverhohlen jedermanns Bewußt sein offen darstellenden Neigungen zu suchen, sondern ein gleichsam unsichtbarer, sich hinter Vernunft verbergender Feind, und darum desto gefährlicher ist. Sie boten die Weisheit gegen die Torheit auf, die sich von Neigungen bloß unvorsichtig täuschen läßt, anstatt sie wider die Bosheit (des menschlichen Herzens) aufzurufen, die mit seelenverderbenden Grundsätzen die Gesinnung insgeheim untergräbt.20[709]

Natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d.i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können. Die Vernunft aber, die dieses ausrichtet, heißt Klugheit. Nur das Moralisch-Gesetzwidrige ist an sich selbst böse, schlechterdings verwerflich, und muß ausgerottet werden; die Vernunft aber, die das lehret, noch mehr aber, wenn sie es auch ins Werk richtet, verdient allein den Namen der Weisheit, in Vergleichung mit welcher das Laster zwar auch Torheit genannt werden kann, aber nur alsdenn, wenn die Vernunft gnugsam Stärke in sich fühlt, um es (und alle Anreize dazu) zu verachten, und nicht bloß als ein zu fürchtendes Wesen zu hassen, und sich dagegen zu bewaffnen.[710]

Wenn der Stoiker also den moralischen Kampf des Menschen bloß als Streit mit seinen (an sich unschuldigen) Neigungen, sofern sie als Hindernisse der Befolgung seiner Pflicht überwunden werden müssen, dachte: so konnte er, weil er kein besonderes positives (an sich böses) Prinzip annimmt, die Ursache der Übertretung nur in der Unterlassung setzen, jene zu bekämpfen; da aber diese Unterlassung selbst pflichtwidrig (Übertretung), nicht bloßer Naturfehler ist, und nun die Ursache derselben nicht wiederum (ohne im Zirkel zu erklären) in den Neigungen, sondern nur in dem, was die Willkür, als freie Willkür bestimmt (im inneren ersten Grunde der Maximen, die mit den Neigungen im Einverständnisse sind), gesucht werden kann, so läßt sich's wohl begreifen, wie Philosophen, denen ein Erklärungsgrund, welcher ewig in Dunkel eingehüllt bleibt21 und obgleich unumgänglich, dennoch unwillkommen ist, den eigentlichen Gegner des Guten verkennen konnten, mit dem sie den Kampf zu bestehen glaubten.

Es darf also nicht befremden, wenn ein Apostel diesen unsichtbaren, nur durch seine Wirkungen auf uns kennbaren, die Grundsätze verderbenden Feind, als außer uns, und zwar als bösen Geist vorstellig macht: »wir haben nicht mit Fleisch und Blut (den natürlichen Neigungen), sondern mit Fürsten und Gewaltigen – mit bösen Geistern zu kämpfen«. Ein Ausdruck, der nicht, um unsere Erkenntnis[711] über die Sinnenwelt hinaus zu erweitern, sondern nur, um den Begriff des für uns Unergründlichen, für den praktischen Gebrauch anschaulich zu machen, angelegt zu sein scheint; denn übrigens ist es zum Behuf des letztern für uns einerlei, ob wir den Verführer bloß in uns selbst, oder auch außer uns setzen, weil die Schuld uns im letztern Falle um nichts minder trifft, als im ersteren, als die wir von ihm nicht verführet werden würden, wenn wir mit ihm nicht im geheimen Einverständnisse wären.22 – Wir wollen diese ganze Betrachtung in zwei Abschnitte einteilen.

20

Diese Philosophen nahmen ihr allgemeines moralisches Prinzip von der Würde der menschlichen Natur, der Freiheit (als Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen), her; ein besseres und edleres konnten sie auch nicht zum Grunde legen. Die moralischen Gesetze schöpften sie nun unmittelbar aus der, auf solche Art, allein gesetzgebenden und durch sie schlechthin gebietenden Vernunft, und so war objektiv, was die Regel betrifft, und auch subjektiv, was die Triebfeder anlangt, wenn man dem Menschen einen unverdorbenen Willen beilegt, diese Gesetze unbedenklich in seine Maximen aufzunehmen, alles ganz richtig angegeben. Aber in der letzten Voraussetzung lag eben der Fehler. Denn, so früh wir auch auf unsern sittlichen Zustand unsere Aufmerksamkeit richten mögen, so finden wir; daß mit ihm es nicht mehr res integra ist, sondern wir davon anfangen müssen, das Böse, was schon Platz genommen hat (es aber, ohne daß wir es in unsere Maxime aufgenommen hätten, nicht würde haben tun können), aus seinem Besitz zu vertreiben: d.i. das erste wahre Gute, was der Mensch tun kann, sei, vom Bösen auszugehen, welches nicht in den Neigungen, sondern in der verkehrten Maxime, und also in der Freiheit selbst zu suchen ist. Jene erschweren nur die Ausführung der entgegengesetzten guten Maxime; das eigentliche Böse aber besteht darin: daß man jenen Neigungen, wenn sie zur Übertretung anreizen, nicht widerstehen will, und diese Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind. Die Neigungen sind nur Gegner der Grundsätze überhaupt (sie mögen gut oder böse sein); und so fern ist jenes edelmütige Prinzip der Moralität als Vorübung (Disziplin der Neigungen überhaupt) zur Lenksamkeit des Subjekts durch Grundsätze vorteilhaft. Aber sofern es spezifisch Grundsätze des Sittlich-Guten sein sollen, und es gleichwohl als Maxime nicht sind, so muß noch ein anderer Gegner derselben im Subjekt vorausgesetzt werden, mit dem die Tugend den Kampf zu bestehen hat, ohne welchen alle Tugenden, zwar nicht, wie jener Kirchenvater will, glänzende Laster, aber doch glänzende Armseligkeiten sein würden; weil dadurch zwar öfters der Aufruhr gestillt, der Aufrührer selbst aber nie besiegt, und ausgerottet wird.

21

Es ist eine ganz gewöhnliche Voraussetzung der Moralphilosophie, daß sich das Dasein des Sittlichbösen im Menschen gar leicht erklären lasse, und zwar aus der Macht der Triebfedern der Sinnlichkeit einerseits, und aus der Ohnmacht der Triebfeder der Vernunft (der Achtung fürs Gesetz) andererseits, d.i. aus Schwäche. Aber alsdann müßte sich das Sittlichgute (in der moralischen Anlage) an ihm noch leichter erklären lassen; denn die Begreiflichkeit des einen ist, ohne die des andern, gar nicht denkbar. Nun ist aber das Vermögen der Vernunft, durch die bloße Idee eines Gesetzes über alle entgegenstrebende Triebfedern Meister zu werden, schlechterdings unerklärlich; also ist es auch unbegreiflich, wie die der Sinnlichkeit, über eine mit solchem Ansehen gebietende Vernunft, Meister werden können. Denn, wenn alle Welt der Vorschrift des Gesetzes gemäß verführe, so würde man sagen: daß alles nach der natürlichen Ordnung zuginge, und niemand würde sich einfallen lassen, auch nur nach der Ursache zu fragen.

22

Es ist eine Eigentümlichkeit der christlichen Moral: das Sittlichgute vom Sittlichbösen nicht wie den Himmel von der Erde, sondern wie den Himmel von der Hölle unterschieden vorzustellen; eine Vorstellung, die zwar bildlich, und als solche empörend, nichts destoweniger aber, ihrem Sinn nach, philosophischrichtig ist. – Sie dient nämlich dazu, zu verhüten: daß das Gute und Böse, das Reich des Lichts und das Reich der Finsternis, nicht als an einander grenzend, und durch allmähliche Stufen (der großem und mindern Helligkeit) sich in einander verlierend gedacht, sondern durch eine unermeßliche Kluft von einander getrennt vorgestellt werde. Die gänzliche Ungleichartigkeit der Grundsätze, mit denen man unter einem oder dem andern dieser zwei Reiche Untertan sein kann, und zugleich die Gefahr, die mit der Einbildung von einer nahen Verwandtschaft der Eigenschaften, die zu einem, oder dem andern qualifizieren, verbunden ist, berechtigen zu dieser Vorstellungsart, die, bei dem Schauderhaften, das sie in sich enthält, zugleich sehr erhaben ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 8, Frankfurt am Main 1977, S. 709-712.
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