§ 1. Allgemeiner Begriff von der Natur der Vernunftschlüsse

[599] Etwas als ein Merkmal mit einem Dinge vergleichen heißt urteilen. Das Ding selber ist das Subjekt, das Merkmal das Prädikat. Die Vergleichung wird durch das Verbindungszeichen ist oder sein ausgedrückt, welches, wenn es schlechthin gebraucht wird, das Prädikat als ein Merkmal des Subjekts bezeichnet, ist es aber mit dem Zeichen der Verneinung behaftet, das Prädikat als ein dem Subjekt entgegen gesetztes Merkmal zu erkennen gibt. In dem erstern Fall ist das Urteil bejahend, im andern verneinend. Man verstehet leicht, daß, wenn man das Prädikat ein Merkmal nennet, dadurch nicht gesagt werde, daß ein Merkmal des Subjekts sei; denn dieses ist nur in bejahenden Urteilen also; sondern daß es als ein Merkmal von irgend einem Dinge angesehen werde, ob es gleich in einem verneinende Urteile dem Subjekte desselben widerspricht. So ist ein Geist das Ding das ich gedenke; zusammengesetzt ein Merkmal von irgend etwas; das Urteil, ein Geist ist nicht zusammengesetzt, stellt dieses Merkmal als widerstreitend dem Dinge selber vor.

Was ein Merkmal von dem Merkmale eines Dinges ist, das nennet man ein mittelbares Merkmal desselben. So ist notwendig ein unmittelbares Merkmal Gottes, unveränderlich aber ein Merkmal des Notwendigen und ein mittelbares Merkmal Gottes. Man siehet leicht: daß das unmittelbare Merkmal zwischen dem entfernten und der Sache selbst die Stelle eines Zwischenmerkmals (nota intermedia) vertrete, weil nur durch dasselbe das entfernete Merkmal mit der Sache selbst verglichen wird. Man kann aber auch ein Merkmal mit einer Sache durch ein Zwischenmerkmal verneinend vergleichen, dadurch daß man erkennet, daß etwas dem unmittelbaren Merkmal einer Sache widerstreite. Zufällig widerstreitet als ein Merkmal dem Notwendigen; notwendig aber ist ein Merkmal von Gott,[599] und man erkennet also vermittelst eines Zwischenmerkmals, daß notwendig sein Gott widerspreche.

Nunmehro errichte ich meine Realerklärung von einem Vernunftschlusse. Ein jedes Urteil durch ein mittelbares Merkmal ist ein Vernunftschluß, oder mit andern Worten: er ist die Vergleichung eines Merkmals mit einer Sache vermittelst eines Zwischenmerkmals. Dieses Zwischenmerkmal (nota intermedia) in einem Vernunftschluß heißt auch sonsten der mittlere Hauptbegriff (terminus medius); welches die andere Hauptbegriffe sein, ist genugsam bekannt.

Um die Beziehung des Merkmals zu der Sache in dem Urteile, die menschliche Seele ist ein Geist, deutlich zu erkennen, bediene ich mich des Zwischenmerkmals vernünftig, so daß ich vermittelst desselben ein Geist zu sein als ein mittelbares Merkmal der menschlichen Seele ansehe. Es müssen notwendig hier drei Urteile vorkommen, nämlich:

1. ein Geist sein ist ein Merkmal des Vernünftigen

2. vernünftig ist ein Merkmal der menschlichen Seele

3. ein Geist sein ist ein Merkmal der menschlichen Seele, denn die Vergleichung eines entferneten Merkmals mit der Sache selbst ist nicht anders wie durch diese drei Handlungen möglich.

In der Form der Urteile würden sie so lauten: Alles Vernünftige ist ein Geist, die Seele des Menschen ist vernünftig, folglich ist die Seele des Menschen ein Geist. Dieses ist nun ein bejahender Vernunftschluß. Was die verneinenden anlangt, so fällt es eben so leicht in die Augen, daß, weil ich den Widerstreit eines Prädikats und Subjekts nicht jederzeit klar genug erkenne, ich mich, wenn ich kann, des Hülfsmittels bedienen müsse, meine Einsicht durch ein Zwischenmerkmal zu erleichtern. Setzet, man lege mir das verneinende Urteil vor: Die Dauer Gottes ist durch keine Zeit zu messen, und ich finde nicht, daß mir dieses Prädikat, so unmittelbar mit dem Subjekte verglichen, eine genugsam klare Idee des Widerstreits gebe, so bediene mich eines Merkmals,[600] das ich mir unmittelbar in diesem Subjekte vorstellen kann, und vergleiche das Prädikat damit, und vermittelst desselben mit der Sache selbst. Durch die Zeit meßbar sein widerstreitet allem Unveränderlichen, unveränderlich aber ist ein Merkmal Gottes, also u.s.w. Dieses förmlich ausgedruckt würde so lauten: Nichts Unveränderliches ist meßbar durch die Zeit, die Dauer Gottes ist unveränderlich, folglich u.s.w.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 599-601.
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