§ 2. Von den obersten Regeln aller Vernunftschlüsse

[601] Aus dem Angeführten erkennet man, daß die erste und allgemeine Regel aller bejahenden Vernunftschlüsse sei: Ein Merkmal vom Merkmal ist ein Merkmal der Sache selbst (nota notae est etiam nota rei ipsius); von allen verneinenden: Was dem Merkmal eines Dinges widerspricht, widerspricht dem Dinge selbst (repugnans notae repugnat rei ipsi). Keine dieser Regeln ist ferner eines Beweises fähig. Denn ein Beweis ist nur durch einen oder mehr Vernunftschlüsse möglich, die oberste Formel aller Vernunftschlüsse demnach beweisen wollen würde heißen im Zirkel schließen. Allein daß diese Regeln den allgemeinen und letzten Grund aller vernünftigen Schlußart enthalten, erhellet daraus, weil diejenige, die sonst bis daher von allen Logikern vor die erste Regel aller Vernunftschlüsse gehalten worden, den einzigen Grund ihrer Wahrheit aus den unsrigen entlehnen müssen. Das dictum de omni, der oberste Grund aller bejahenden Vernunftschlüsse lautet also: Was von einem Begriff allgemein bejahet wird, wird auch von einen jeden bejahet, der unter ihm enthalten ist. Der Beweisgrund hievon ist klar. Derjenige Begriff, unter welchem andere enthalten sein, ist allemal als ein Merkmal von diesen abgesondert worden; was nun diesem Begriff zukommt, das ist ein Merkmal eines Merkmals, mithin auch ein Merkmal der Sachen selbst, von denen er ist abgesondert worden, d.i. er kommt denen niedrigen zu, die unter[601] ihm enthalten sind. Ein jeder, der nur einigermaßen in logischen Kenntnissen unterwiesen ist, siehet leicht ein: daß dieses Dictum lediglich um dieses Grundes willen wahr sei und daß es also unter unserer ersten Regel stehe. Das dictum de nullo steht in eben solcher Verhältnis gegen unsere zweite Regel. Was von einem Begriffe allgemein verneinet wird, das wird auch von allen demjenigen verneinet, was unter demselben enthalten ist. Denn derjenige Begriff, unter welchem diese andere enthalten sind, ist nur ein von ihnen abgesondertes Merkmal. Was aber diesem Merkmal widerspricht, das widerspricht auch den Sachen selbst; folglich was den höhern Begriffen widerspricht, muß auch den niedrigen widerstreiten, die unter ihm stehen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 601-602.
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