§ 3. Von reinen und vermischten Vernunftschlüssen

[602] Es ist jedermann bekannt, daß es unmittelbare Schlüsse gebe, da aus einem Urteil die Wahrheit eines andern ohne einen Mittelbegriff unmittelbar erkannt wird. Um deswillen sind dergleichen Schlüsse auch keine Vernunftschlüsse; z. E. aus dem Satze: Eine jede Materie ist veränderlich, folgt gerade zu: was nicht veränderlich ist, ist nicht Materie. Die Logiker zählen verschiedene Arten solcher unmittelbaren Schlußfolgen, worunter ohne Zweifel die durch die logische Umkehrung, imgleichen durch die Kontraposition die vornehmsten sein.

Wenn nun ein Vernunftschluß nur durch drei Sätze geschieht, nach den Regeln die von jedem Vernunftschlusse nur eben vorgetragen worden, so nenne ich ihn einen reinen Vernunftschluß (ratiocinium purum); ist er aber nur möglich, indem mehr wie drei Urteile mit einander verbunden sind, so ist er ein vermengter Vernunftschluß (ratiocinium hybridum). Setzet nämlich, daß zwischen die drei Hauptsätze noch ein aus ihnen gefolgerter unmittelbarer Schluß müsse geschoben werden und also ein Satz mehr dazu komme, als ein reiner Vernunftschluß erlaubt, so ist es ratiocinium hybridum, z. E. gedenket euch, es schlösse jemand also:[602]

Nichts, was verweslich ist, ist einfach

Mithin kein Einfaches ist verweslich

Die Seele des Menschen ist einfach

Also die Seele des Menschen ist nicht verweslich,

so würde er zwar keinen eigentlich zusammengesetzten Vernunftschluß haben, weil dieser aus mehreren Vernunftschlüssen bestehen soll, dieser aber enthält außer dem, was zu einem Vernunftschluß erfodert wird, nach einen unmittelbaren Schluß durch die Kontraposition und enthält vier Sätze.

Wenn aber auch wirklich nur drei Urteile ausgedrückt würden, allein die Folge des Schlußsatzes aus diesen Urteilen wäre nur möglich kraft einer erlaubten logischen Umkehrung, Kontraposition oder einer andern logischen Veränderung eines dieser Vorderurteile, so wäre gleichwohl der Vernunftschluß ein ratiocinium hybridum; denn es kommt hier gar nicht darauf an, was man sagt, sondern was man unumgänglich nötig hat, dabei zu denken, wenn eine richtige Schlußfolge soll vorhanden sein. Nehmet einmal an, in dem Vernunftschlusse

Nichts Verwesliches ist einfach

die Seele des Menschen ist einfach

also die Seele des Menschen ist nicht verweslich

sei nur in so ferne eine richtige Folge, als ich durch eine ganz richtige Umkehrung des Obersatzes sagen kann: nichts Verwesliches ist einfach, folglich nichts Einfaches ist verweslich, so bleibt der Vernunftschluß immer ein vermischter Schluß, weil seine Schlußkraft auf der geheimen Dazufügung dieser unmittelbaren Folgerung beruhet, die man wenigstens in Gedanken haben muß.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977, S. 602-603.
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