§ 6. Schlußbetrachtung

[611] Wir sind demnach belehrt, daß die oberste Regeln aller Vernunftschlüsse unmittelbar auf diejenige Ordnung der Begriffe führe, die man die erste Figur nennet; daß alle andre Versetzungen des Mittelbegriffs nur eine richtige Schlußfolge geben, indem sie durch leichte unmittelbare Folgerungen auf solche Sätze führen, die in der einfältigen Ordnung der ersten Figur verknüpft sein; daß es unmöglich sei, in mehr wie in einer Figur einfach und unvermengt zu schließen, weil doch immer nur die erste Figur, die durch versteckte Folgerungen in einem Vernunftschlusse verborgen liegt, die Schlußkraft enthält und die veränderte Stellung der Begriffe nur einen kleinen oder großem Umschweif verursacht, den man zu durchlaufen hat, um die Folge einzusehen; und daß die Einteilung der Figuren überhaupt, in so fern sie reine und mit keinen Zwischenurteilen vermischte Schlüsse enthalten sollen, falsch und unmöglich sei. Wie unsere allgemeine Grundregeln aller Vernunftschlüsse zugleich die besondern Regeln der so genannten ersten Figur enthalten, imgleichen wie man aus dem gegebenen Schlußsatze und dem mittlern Hauptbegriffe sogleich einen jeden Vernunftschluß aus einer der übrigen Figuren ohne die unnütze Weitläuftigkeit der Reduktionsfor meln in die erste und einfache Schlußart verändern könne, so daß entweder die Konklusion selber oder ein Satz, daraus diese durch unmittelbare Folgerung fließt) geschlossen wird, ist aus unserer Erläuterung so leicht abzunehmen, daß ich mich dabei nicht aufhalte.

Ich will diese Betrachtung nicht endigen, ohne einige Anmerkungen beigefügt zu haben, die auch anderweitig von erheblichen Nutzen sein könnten.

Ich sage demnach erstlich, daß ein deutlicher Begriff nur durch ein Urteil, ein vollständiger aber nicht[611] anders als durch einen Vernunftschluß möglich sei. Es wird nämlich zu einem deutlichen Begriff erfodert, daß ich etwas als ein Merkmal eines Dinges klar erkenne, dieses aber ist ein Urteil. Um einen deutlichen Begriff vom Körper zu haben, stelle ich mir die Undurchdringlichkeit als ein Merkmal desselben klar vor. Diese Vorstellung aber ist nichts anders als der Gedanke, ein Körper ist undurchdringlich. Hiebei ist nur zu merken, daß dieses Urteil nicht der deutliche Begriff selber, sondern die Handlung sei, wodurch er wirklich wird; denn die Vorstellung, die nach dieser Handlung von der Sache selbst entspringt, ist deutlich. Es ist leicht zu zeigen, daß ein vollständiger Begriff nur durch einen Vernunftschluß möglich sei, man darf nur den ersten Parag. dieser Abhandlung nachsehen. Um deswillen könnte man einen deutlichen Begriff auch einen solchen nennen, der durch ein Urteil klar ist, einen vollständigen aber, der durch einen Vernunftschluß deutlich ist. Ist die Vollständigkeit vom ersten Grade, so ist der Vernunftschluß ein einfacher, ist sie vom zweiten oder dritten, so ist sie nur durch eine Reihe von Kettenschlüssen, die der Verstand nach der Art eines Sorites verkürzt, möglich. Hieraus erhellet auch ein wesentlicher Fehler der Logik, so wie sie gemeiniglich abgehandelt wird, daß von den deutlichen und vollständigen Begriffen eher gehandelt wird, wie von Urteilen und Vernunftschlüssen, obgleich jene nur durch diese möglich sein.

Zweitens eben so augenscheinlich wie es ist, daß zum vollständigen Begriffe keine andere Grundkraft der Seele erfodert werde, wie zum deutlichen (indem eben dieselbe Fähigkeit, die etwas unmittelbar als ein Merkmal in einem Dinge erkennet, auch in diesem Merkmale wieder ein anderes Merkmal vorzustellen, und also die Sache durch ein entferntes Merkmal zu denken gebraucht wird): eben so leicht fällt es auch in die Augen, daß Verstand und Vernunft, d.i. das Vermögen, deutlich zu erkennen, und dasjenige, Vernunftschlüsse zu machen, keine verschiedene Grundfähigkeiten sein. Beide bestehen im Vermögen zu urteilen; wenn man aber mittelbar urteilt, so schließt man.

Drittens ist hieraus auch abzunehmen, daß die obere[612] Erkenntniskraft schlechterdings nur auf dem Vermögen zu urteilen beruhe. Demnach wenn ein Wesen urteilen kann, so hat es die obere Erkenntnisfähigkeit. Findet man Ursache, ihm diese letztere abzusprechen, so vermag es auch nicht zu urteilen. Die Verabsäumung solcher Betrachtungen hat einen berühmten Gelehrten veranlaßt, den Tieren deutliche Begriffe zuzustehn. Ein Ochs, heißt es, hat in seiner Vorstellung vom Stalle doch auch eine klare Vorstellung von seinem Merkmale der Türe, also einen deutlichen Begriff vom Stalle. Es ist leicht, hier die Verwirrung zu verhüten. Nicht darin besteht die Deutlichkeit eines Begriffs, daß dasjenige, was ein Merkmal vom Dinge ist, klar vorgestellt werde, sondern daß es als ein Merkmal des Dinges erkannt werde. Die Türe ist zwar etwas zum Stalle Gehöriges, und kann zum Merkmal desselben dienen, aber nur derjenige, der das Urteil abfaßt: diese Türe gehört zu diesem Stalle, hat einen deutlichen Begriff von dem Gebäude, und dieses ist sicherlich über das Vermögen des Viehes.

Ich gehe noch weiter und sage: es ist ganz was anders, Dinge von einander unterscheiden, und den Unterschied der Dinge erkennen. Das letztere ist nur durch Urteilen möglich, und kann von keinem unvernünftigen Tiere geschehen. Folgende Einteilung kann von großem Nutzen sein. Logisch unterscheiden heißt erkennen, daß ein Ding A nicht B sei, und ist jederzeit ein verneinendes Urteil, physisch unterscheiden heißt durch verschiedene Vorstellungen zu verschiedenen Handlungen getrieben werden. Der Hund unterscheidet den Braten vom Brote, weil er anders vom Braten, als vom Brote gerührt wird (denn verschiedene Dinge verursachen verschiedne Empfindungen), und die Empfindungen vom erstem ist ein Grund einer andern Begierde in ihm als die vom letztem,3 nach[613] der natürlichen Verknüpfung seiner Triebe mit seinen Vorstellungen. Man kann hieraus die Veranlassung ziehen, dem wesentlicher Unterschiede der vernünftigen und vernunftlosen Tiere besser nachzudenken. Wenn man einzusehen vermag, was denn dasjenige für eine geheime Kraft sei, wodurch das Urteilen möglich wird, so wird man den Knoten auflösen. Meine jetzige Meinung geht dahin, daß diese Kraft oder Fähigkeit nichts anders sei als das Vermögen des innern Sinnes, d.i. seine eigene Vorstellungen zum Objekte seiner Gedanken zu machen. Dieses Vermögen ist nicht aus einem andern abzuleiten, es ist ein Grundvermögen im eigentlichen Verstande und kann, wie ich davor halte, bloß vernünftigen Wesen eigen sein. Auf demselben aber beruhet die ganze obere Erkenntniskraft. Ich schließe mit einer Vorstellung, die denenjenigen angenehm sein muß, welche das Vergnügen über die Einheit in dem menschlichen Erkenntnissen empfinden können. Alle bejahende Ur teile stehen unter einer gemeinschaftlichen Formel, dem Satze der Einstimmung: Cuilibet subiecto competit praedicatum ipsi identicum, alle verneinende unter dem Satze des Widerspruchs: Nulli subiecto competit praedicatum ipsi oppositum. Alle bejahende Vernunftschlüsse sind unter der Regel enthalten: Nota notae est nota rei ipsius, alle verneinende unter dieser: Oppositum notae opponitur rei ipsi. Alle Urteile, die unmittelbar unter den Sätzen der Einstimmung oder des Widerspruchs stehen, das ist, bei denen weder die Identität noch der Widerstreit durch ein Zwischenmerkmal (mithin nicht vermittelst der Zergliederung der Begriffe), sondern unmittelbar eingesehen wird, sind unerweisliche Urteile, diejenige, wo sie mittelbar erkannt werden kann, sind erweislich. Die menschliche Erkenntnis ist voll solcher unerweislicher Urteile. Vor jeglicher Definition kommen deren etliche vor, so bald man, um zu ihr zu gelangen, dasjenige, was man zunächst und unmittelbar an einem Dinge erkennet,[614] sich als ein Merkmal desselben vorstellt. Diejenige Weltweise irren, die so verfahren, als wenn es gar keine unverwesliche Grundwahrheiten außer einem gebe. Diejenigen irren eben so sehr, die ohne genugsame Gewährleistung zu freigebig sind, verschiedene ihrer Sätze dieses Vorzugs zu würdigen.[615]


Fußnoten

1 Diese Regel gründet sich auf die synthetische Ordnung, nach welcher zuerst das entfernete und dann das nähere Merkmal mit dem Subjekte verglichen wird. Indessen wenn dieselbe gleich als bloß willkürlich angesehen würde, so wird sie doch unumgänglich nötig, so bald man vier Figuren haben will. Denn so bald es einerlei ist, ob ich das Prädikat der Konklusion in den Obersatz oder Untersatz bringe, so ist die erste Figur von der vierten gar nicht unterschieden. Einen dergleichen Fehler findet man in Crusii Logik Seite 600 die Anmerk.


2 Denn wenn derjenige Satz der Obersatz ist, in dem das Prädikat der Konklusion vorkommt, so ist von der eigentlichen Konklusion, die hier aus den Vordersätzen unmittelbar fließt, der zweite Satz der Obersatz und der erste der Untersatz. Alsdenn ist aber alles nach der ersten Figur geschlossen, nur so, daß der aufgegebene Schlußsatz aus dem, welcher zunächst aus gedachten Urteilen folgt, durch eine logische Umkehrung gezogen wird.


3 Es ist in der Tat von der äußersten Erheblichkeit, bei der Untersuchung der tierischen Natur hierauf acht zu haben. Wir werden an ihnen lediglich äußere Handlungen gewahr, deren Verschiedenheit unterschiedliche Bestimmungen ihrer Begierde anzeigt. Ob in ihrem Innein diejenige Handlung der Erkenntniskraft vorgeht, da sie sich der Übereinstimmung oder des Widerstreits desjenigen, was in einer Empfindung ist, mit dem, was in einer andern befindlich ist, bewußt sein und also urteilen, das folgt gar nicht daraus.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 2, Frankfurt am Main 1977.
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