I. Von der Philosophie als einem System

[9] Wenn Philosophie das System der Vernunfterkenntnis durch Begriffe ist, so wird sie schon dadurch von einer Kritik der reinen Vernunft hinreichend unterschieden, als welche zwar eine philosophische Untersuchung der Möglichkeit einer dergleichen Erkenntnis enthält, aber nicht als Teil zu einem solchen System gehört, sondern so gar die Idee desselben allererst entwirft und prüfet.

Die Einteilung des Systems kann zuerst nur die in ihren formalen und materialen Teil sein, davon der erste (die Logik) bloß die Form des Denkens in einem System von Regeln befaßt, der zweite (reale Teil) die Gegenstände darüber gedacht wird, so fern ein Vernunfterkenntnis derselben aus Begriffen möglich ist, systematisch in Betrachtung zieht.

Dieses reale System der Philosophie selbst kann nun nicht anders als nach dem ursprünglichen Unterschiede ihrer Objekte und der darauf beruhenden wesentlichen Verschiedenheit der Prinzipien einer Wissenschaft, die sie enthält, in theoretische und praktische Philosophie eingeteilt werden; so, daß der eine Teil die Philosophie der Natur, der andere die der Sitten sein muß, von denen die erstere auch empirische, die zweite aber (da Freiheit schlechterdings kein Gegenstand der Erfahrung sein kann) niemals andere als reine Prinzipien a priori enthalten kann.

Es herrscht aber ein großer und selbst der Behandlungsart der Wissenschaft sehr nachteiliger Mißverstand in Ansehung dessen, was man für praktisch, in einer solchen Bedeutung zu halten habe, daß es darum zu einer praktischen Philosophie gezogen zu werden verdiente. Man hat Staatsklugheit und Staatswirtschaft, Haushaltungsregeln, imgleichen die des Umgangs, Vorschriften zum Wohlbefinden und Diätetik, so wohl der Seele als des Körpers, (warum nicht gar alle Gewerbe und Künste?) zur praktischen Philosophie zählen zu können geglaubt; weil sie doch insgesamt einen Inbegriff praktischer Sätze enthalten. Allein[9] praktische Sätze sind zwar der Vorstellungsart, darum aber nicht dem Inhalte nach von den theoretischen, welche die Möglichkeit der Dinge und ihre Bestimmungen enthalten, unterschieden, sondern nur die allein, welche die Freiheit unter Gesetzen betrachten. Die übrigen insgesamt sind nichts weiter, als die Theorie von dem, was zur Natur der Dinge gehört, nur auf die Art, wie sie von uns nach einem Prinzip erzeugt werden können, angewandt, d.i. die Möglichkeit derselben durch eine willkürliche Handlung (die eben so wohl zu den Naturursachen gehört) vorgestellt. So ist die Auflösung des Problems der Mechanik: zu einer gegebenen Kraft, die mit einer gegebenen Last im Gleichgewichte sein soll, das Verhältnis der respektiven Hebelarme zu finden, zwar als praktische Formel ausgedrückt, die aber nichts anders enthält als den theoretischen Satz: daß die Länge der letzteren sich umgekehrt wie die erstern verhalten, wenn sie im Gleichgewichte sind; nur ist dieses Verhältnis, seiner Entstehung nach, durch eine Ursache, deren Bestimmungsgrund die Vorstellung jenes Verhältnisses ist, (unsere Willkür) als möglich vorgestellt. Eben so ist es mit allen praktischen Sätzen bewandt, welche bloß die Erzeugung der Gegenstände betreffen. Wenn Vorschriften, seine Glückseligkeit zu befördern, gegeben werden und, z.B., nur von dem die Rede ist, was man an seiner eigenen Person zu tun habe, um der Glückseligkeit empfänglich zu sein, so werden nur die innere Bedingungen der Möglichkeit derselben, an der Genügsamkeit, an dem Mittelmaße der Neigungen, um nicht Leidenschaft zu werden, u.s.w. als zur Natur des Subjekts gehörig und zugleich die Erzeugungsart dieses Gleichgewichts, als eine durch uns selbst mögliche Kausalität, folglich alles als unmittelbare Folgerung aus der Theorie des Objekts in Beziehung auf die Theorie unserer eigenen Natur (uns selbst als Ursache) vorgestellt: mithin ist hier die praktische Vorschrift zwar der Formel, aber nicht dem Inhalte nach von einem theoretischen unterschieden, bedarf also nicht zu einer besondern Art von Philosophie, um diese Verknüpfung von Gründen mit ihren[10] Folgen einzusehen. – Mit einem Worte: alle praktischen Sätze, die dasjenige, was die Natur enthalten kann, von der Willkür als Ursache ableiten, gehören insgesamt zur theoretischen Philosophie, als Erkenntnis der Natur, nur diejenigen, welche der Freiheit das Gesetz geben, sind dem Inhalte nach spezifisch von jenen unterschieden. Man kann von den erstern sagen: sie machen den praktischen Teil einer Philosophie der Natur aus, die letztern aber gründen allein eine besondere praktische Philosophie.


Anmerkung

Es liegt viel daran, die Philosophie nach ihren Teilen genau zu bestimmen und zu dem Ende nicht dasjenige, was nur Folgerung oder Anwendung derselben auf gegebene Fälle ist, ohne besondere Prinzipien zu bedürfen, unter die Glieder der Einteilung derselben, als eines Systems, zu setzen.

Praktische Sätze werden von den theoretischen entweder in Ansehung der Prinzipien oder der Folgerungen unterschieden. Im letztern Falle machen sie nicht einen besondern Teil der Wissenschaft aus, sondern gehören zum theoretischen, als eine besondere Art von Folgerungen aus derselben. Nun ist die Möglichkeit der Dinge nach Naturgesetzen von der nach Gesetzen der Freiheit ihren Prinzipien nach wesentlich unterschieden. Dieser Unterschied besteht aber nicht darin, daß bei der letztern die Ursach in einem Willen gesetzt wird, bei der erstern aber außer demselben, in den Dingen selbst. Denn, wenn doch der Wille keine andern Prinzipien befolgt, als die, von welchen der Verstand einsieht, daß der Gegenstand nach ihnen, als bloßen Naturgesetzen, möglich sei, so mag immer der Satz, der die Möglichkeit des Gegenstandes durch Kausalität der Willkür enthält, ein praktischer Satz heißen, er ist doch, dem Prinzip nach, von den theoretischen Sätzen, die die Natur der Dinge betreffen, gar nicht unterschieden, vielmehr muß er das seine von dieser entlehnen, um die Vorstellung eines Objekts in der Wirklichkeit darzustellen.[11]

Praktische Sätze also, die dem Inhalte nach bloß die Möglichkeit eines vorgestellten Objekts (durch willkürliche Handlung) betreffen, sind nur Anwendungen einer vollständigen theoretischen Erkenntnis und können keinen besondern Teil einer Wissenschaft ausmachen. Eine praktische Geometrie, als abgesonderte Wissenschaft, ist ein Unding: obgleich noch so viel praktische Sätze in dieser reinen Wissenschaft enthalten sind, deren die meisten als Probleme einer besonderen Anweisung zur Auflösung bedürfen. Die Aufgabe: mit einer gegebenen Linie und einem gegebenen rechten Winkel ein Quadrat zu konstruieren, ist ein praktischer Satz, aber reine Folgerung aus der Theorie. Auch kann sich die Feldmeßkunst (agrimensoria) den Namen einer praktischen Geometrie keineswegs anmaßen und ein besonderer Teil der Geometrie überhaupt heißen, sondern gehört in Scholien der letzteren, nämlich den Gebrauch dieser Wissenschaft zu Geschäften.1

Selbst in einer Wissenschaft der Natur, so fern sie auf empirischen Prinzipien beruht, nämlich der eigentlichen Physik, können die praktischen Vorrichtungen, um verborgene Naturgesetze zu entdecken, unter dem Namen der Experimentalphysik, zu der Benennung einer praktischen Physik (die eben so wohl ein Unding ist), als eines Teils der Naturphilosophie, keinesweges berechtigen. Denn die Prinzipien, wornach wir Versuche anstellen, müssen immer selbst aus der Kenntnis der Natur, mithin aus der Theorie hergenommen werden. Eben das gilt von den praktischen Vorschriften, welche die willkürliche Hervorbringung eines[12] gewissen Gemütszustandes in uns betreffen (z.B. den der Bewegung oder Bezähmung der Einbildungskraft, die Befriedigung oder Schwächung der Neigungen). Es gibt keine praktische Psychologie, als besondern Teil der Philosophie über die menschliche Natur. Denn die Prinzipien der Möglichkeit seines Zustandes, vermittelst der Kunst, müssen von denen der Möglichkeit unserer Bestimmungen aus der Beschaffenheit unserer Natur entlehnt werden und, obgleich jene in praktischen Sätzen bestehen, so machen sie doch keinen praktischen Teil der empirischen Psychologie aus, weil sie keine besondere Prinzipien haben, sondern gehören bloß zu den Scholien derselben.

Überhaupt gehören die praktischen Sätze (sie mögen rein a priori, oder empirisch sein), wenn sie unmittelbar die Möglichkeit eines Objekts durch unsere Willkür aussagen, jederzeit zur Kenntnis der Natur und dem theoretischen Teile der Philosophie. Nur die, welche direkt die Bestimmung einer Handlung, bloß durch die Vorstellung ihrer Form (nach Gesetzen überhaupt), ohne Rücksicht auf die Mittel des dadurch zu bewirkenden Objekts, als notwendig darstellen, können und müssen ihre eigentümliche Prinzipien (in der Idee der Freiheit) haben, und, ob sie gleich auf eben diese Prinzipien den Begriff eines Objekts des Willens (das höchste Gut) gründen, so gehört dieses doch nur indirekt, als Folgerung, zu der praktischen Vorschrift (welche nunmehr sittlich heißt). Auch kann die Möglichkeit desselben durch die Kenntnis der Natur (Theorie) nicht eingesehen werden. Nur jene Sätze gehören also allein zu einem besondern Teile eines Systems der Vernunfterkenntnisse, unter dem Namen der praktischen Philosophie.

Alle übrige Sätze der Ausübung, an welche Wissenschaft sie sich auch immer anschließen mögen, können, wenn man etwa Zweideutigkeit besorgt, statt praktischer technische Sätze heißen. Denn sie gehören zur Kunst, das zu stande zu bringen, wovon man will, daß es sein soll, die, bei einer vollständigen Theorie, jederzeit eine bloße Folgerung und kein für sich bestehender Teil irgend einer Art von Anweisung[13] ist. Auf solche Weise gehören alle Vorschriften der Geschicklichkeit zur Technik2 und mithin zur theoretischen Kenntnis der Natur als Folgerungen derselben. Wir werden uns aber künftig des Ausdrucks der Technik auch bedienen, wo Gegenstände der Natur bisweilen bloß nur so beurteilt werden, als ob ihre Möglichkeit sich auf Kunst gründe, in welchen Fällen die Urteile weder theoretisch noch praktisch (in der zuletzt angeführten Bedeutung) sind, indem sie nichts von der Beschaffenheit des Objekts, noch der Art, es hervorzubringen, bestimmen, sondern wodurch die Natur selbst, aber bloß nach der Analogie mit einer Kunst, und zwar in subjektiver Beziehung auf unser Erkenntnisvermögen nicht in objektiver auf die Gegenstände beurteilt wird. Hier werden wir nun die Urteile selbst zwar nicht technisch, aber doch die Urteilskraft, auf deren Gesetze sie sich gründen, und ihr gemäß auch die Natur, technisch nennen, welche Technik, da sie keine objektiv bestimmende Sätze enthält, auch keinen Teil der doktrinalen Philosophie, sondern nur der Kritik unserer Erkenntnisvermögen ausmacht.[14]

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 9-15.
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