Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie

[91] Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen alle Urteile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, ob sie gleich nicht geschehen[91] sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein Erfahrungsbegriff, und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich die Erfahrung das Gegenteil von denjenigen Foderungen zeigt, die unter Voraussetzung derselben als notwendig vorgestellt werden. Auf der anderen Seite ist es eben so notwendig, daß alles, was geschieht, nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnotwendigkeit ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum, weil er den Begriff der Notwendigkeit, mithin einer Erkenntnis a priori, bei sich führet. Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt, und muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d.i. nach allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, deren objektive Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset und notwendig beweisen muß.

Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnotwendigkeit im Widerspruch zu stehen scheint, und, bei dieser Wegescheidung, die Vernunft in spekulativer Absicht den Weg der Naturnotwendigkeit viel gebähnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch in praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln. Diese muß also wohl voraussetzen: daß kein wahrer Widerspruch zwischen Freiheit und Naturnotwendigkeit ebenderselben menschlichen Handlungen angetroffen werde, denn sie kann eben so wenig den Begriff der Natur, als den der Freiheit aufgeben.

Indessen muß dieser Scheinwiderspruch wenigstens auf überzeugende Art vertilgt werden, wenn man gleich, wie Freiheit möglich sei, niemals begreifen könnte. Denn, wenn sogar der Gedanke von der Freiheit sich selbst, oder der[92] Natur, die eben so notwendig ist, widerspricht, so mußte sie gegen die Naturnotwendigkeit durchaus aufgegeben werden.

Es ist aber unmöglich, diesem Widerspruch zu entgehen, wenn das Subjekt, was sich frei dünkt, sich selbst in demselben Sinne, oder in eben dem selben Verhältnisse dächte, wenn es sich frei nennt, als wenn es sich in Absicht auf die nämliche Handlung dem Naturgesetze unterworfen annimmt. Daher ist es eine unnachlaßliche Aufgabe der spekulativen Philosophie: wenigstens zu zeigen, daß ihre Täuschung wegen des Widerspruchs darin beruhe, daß wir den Menschen in einem anderen Sinne und Verhältnisse denken, wenn wir ihn frei nennen, als wenn wir ihn, als Stück der Natur, dieser ihren Gesetzen für unterworfen halten, und daß beide nicht allein gar wohl beisammen stehen können, sondern auch, als notwendig vereinigt, in demselben Subjekt gedacht werden müssen, weil sonst nicht Grund angegeben werden könnte, warum wir die Vernunft mit einer Idee belästigen sollten, die, ob sie sich gleich ohne Widerspruch mit einer anderen genugsam bewährten vereinigen läßt, dennoch uns in ein Geschäfte verwickelt, wodurch die Vernunft in ihrem theoretischen Gebrauche sehr in die Enge gebracht wird. Diese Pflicht liegt aber bloß der spekulativen Philosophie ob, damit sie der praktischen freie Bahn schaffe. Also ist es nicht in das Belieben des Philosophen gesetzt, ob er den scheinbaren Widerstreit heben, oder ihn unangerührt lassen will; denn im letzteren Falle ist die Theorie hierüber bonum vacans, in dessen Besitz sich der Fatalist mit Grunde setzen und alle Moral aus ihrem ohne Titel besessenem vermeinten Eigentum verjagen kann.

Doch kann man hier noch nicht sagen, daß die Grenze der praktischen Philosophie anfange. Denn jene Beilegung der Streitigkeit gehört gar nicht ihr zu, sondern sie fodert nur von der spekulativen Vernunft, daß diese die Uneinigkeit, darin sie sich in theoretischen Fragen selbst verwickelt, zu Ende bringe, damit praktische Vernunft Ruhe und Sicherheit für äußere Angriffe habe, die ihr den Boden, worauf sie sich anbauen will, streitig machen könnten.[93]

Der Rechtsanspruch aber, selbst der gemeinen Menschenvernunft, auf Freiheit des Willens, gründet sich auf das Bewußtsein und die zugestandene Voraussetzung der Unabhängigkeit der Vernunft, von bloß subjektiv-bestimmten Ursachen, die insgesamt das ausmachen, was bloß zur Empfindung, mithin unter die allgemeine Benennung der Sinnlichkeit, gehört. Der Mensch, der sich auf solche Weise als Intelligenz betrachtet, setzt sich dadurch in eine andere Ordnung der Dinge und in ein Verhältnis zu bestimmenden Gründen von ganz anderer Art, wenn er sich als Intelligenz mit einem Willen, folglich mit Kausalität begabt, denkt, als wenn er sich wie Phänomen in der Sinnenwelt (welches er wirklich auch ist) wahrnimmt, und seine Kausalität, äußerer Bestimmung nach, Naturgesetzen unterwirft. Nun wird er bald inne, daß beides zugleich stattfinden könne, ja sogar müsse. Denn, daß ein Ding in der Erscheinung (das zur Sinnenwelt gehörig) gewissen Gesetzen unterworfen ist, von welchen eben dasselbe, als Ding oder Wesen an sich selbst, unabhängig ist, enthält nicht den mindesten Widerspruch; daß er sich selbst aber auf diese zwiefache Art vorstellen und denken müsse, beruht, was das erste betrifft, auf dem Bewußtsein seiner selbst als durch Sinne affizierten Gegenstandes, was das zweite anlangt, auf dem Bewußtsein seiner selbst als Intelligenz, d.i. als unabhängig im Vernunftgebrauch von sinnlichen Eindrücken (mithin als zur Verstandeswelt gehörig).

Daher kommt es, daß der Mensch sich eines Willens anmaßt, der nichts auf seine Rechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört, und dagegen Handlungen durch sich als möglich, ja gar als notwendig, denkt, die nur mit Hintansetzung aller Begierden und sinnlichen Anreizungen geschehen können. Die Kausalität derselben liegt in ihm als Intelligenz und in den Gesetzen der Wirkungen und Handlungen nach Prinzipien einer intelligibelen Welt, von der er wohl nichts weiter weiß, als daß darin lediglich die Vernunft, und zwar reine, von Sinnlichkeit[94] unabhängige Vernunft, das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst (als Mensch hingegen nur Erscheinung seiner selbst) ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, so daß, wozu Neigungen und Antriebe (mithin die ganze Natur der Sinnenwelt) anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch tun können, so gar, daß er die erstere nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst, d.i. seinem Willen nicht zuschreibt, wohl aber die Nachsicht, die er gegen sie tragen möchte, wenn er ihnen, zum Nachteil der Vernunftgesetze des Willens, Einfluß auf seine Maximen einräumete.

Dadurch, daß die praktische Vernunft sich in eine Verstandeswelt hinein denkt, überschreitet sie gar nicht ihre Grenzen, wohl aber, wenn sie sich hineinschauen, hineinempfinden wollte. Jenes ist nur ein negativer Gedanke, in Ansehung der Sinnenwelt, die der Vernunft in Bestimmung des Willens keine Gesetze gibt, und nur in diesem einzigen Punkte positiv, daß jene Freiheit, als negative Bestimmung, zugleich mit einem (positiven) Vermögen und sogar mit einer Kausalität der Vernunft verbunden sei, welche wir einen Willen nennen, so zu handeln, daß das Prinzip der Handlungen der wesentlichen Beschaffenheit einer Vernunftursache, d.i. der Bedingung der Allgemeingültigkeit der Maxime, als eines Gesetzes, gemäß sei. Würde sie aber noch ein Objekt des Willens, d.i. eine Bewegursache aus der Verstandeswelt herholen, so überschritte sie ihre Grenzen, und maßte sich an, etwas zu kennen, wovon sie nichts weiß. Der Begriff einer Verstandeswelt ist also nur ein Standpunkt, den die Vernunft sich genötigt sieht außer den Erscheinungen zu nehmen, um sich selbst als praktisch zu denken, welches, wenn die Einflüsse der Sinnlichkeit für den Menschen bestimmend wären, nicht möglich sein würde, welches aber doch notwendig ist, wofern ihm nicht das Bewußtsein seiner selbst, als Intelligenz, mithin als vernünftige und durch Vernunft tätige, d.i. frei wirkende Ursache, abgesprochen werden soll. Dieser Gedanke[95] führt freilich die Idee einer anderen Ordnung und Gesetzgebung, als die des Naturmechanismus, der die Sinnenwelt trifft, herbei, und macht den Begriff einer intelligibelen Welt (d.i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst) notwendig, aber ohne die mindeste Anmaßung, hier weiter, als bloß ihrer formalen Bedingung nach, d.i. der Allgemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze, mithin der Autonomie des letzteren, die allein mit der Freiheit desselben bestehen kann, gemäß zu denken; da hingegen alle Gesetze, die auf ein Objekt bestimmt sind, Heteronomie geben, die nur an Naturgesetzen angetroffen werden und auch nur die Sinnenwelt treffen kann.

Aber alsdenn würde die Vernunft alle ihre Grenze überschreiten, wenn sie es sich zu erklären unterfinge, wie reine Vernunft praktisch sein könne, welches völlig einerlei mit der Aufgabe sein würde, zu erklären, wie Freiheit möglich sei.

Denn wir können nichts erklären, als was wir auf Gesetze zurückführen können, deren Gegenstand in irgend einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann. Freiheit aber ist eine bloße Idee, deren objektive Realität auf keine Weise nach Naturgesetzen, mithin auch nicht in irgend einer möglichen Erfahrung, dargetan werden kann, die also darum, weil ihr selbst niemals nach irgend einer Analogie ein Beispiel untergelegt werden mag, niemals begriffen, oder auch nur eingesehen werden kann. Sie gilt nur als notwendige Voraussetzung der Vernunft in einem Wesen, das sich eines Willens, d.i. eines vom bloßen Begehrungsvermögen noch verschiedenen Vermögens (nämlich sich zum Handeln als Intelligenz, mithin nach Gesetzen der Vernunft, unabhängig von Naturinstinkten, zu bestimmen), bewußt zu sein glaubt. Wo aber Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig, als Verteidigung, d.i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben, und darum die Freiheit dreust vor unmöglich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der vermeintlich[96] von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend anders liege, als darin, daß, da sie, um das Naturgesetz in Ansehung menschlicher Handlungen geltend zu machen, den Menschen notwendig als Erscheinung betrachten mußten, und nun, da man von ihnen fodert, daß sie ihn als Intelligenz auch als Ding an sich selbst denken sollten, sie ihn immer auch da noch als Erscheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung seiner Kausalität (d.i. seines Willens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Subjekte im Widerspruche stehen würde, welcher aber wegfällt, wenn sie sich besinnen, und, wie billig, eingestehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar verborgen) zum Grunde liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht verlangen kann, daß sie mit denen einerlei sein sollten, unter denen ihre Erscheinungen stehen.

Die subjektive Unmöglichkeit, die Freiheit des Willens zu erklären, ist mit der Unmöglichkeit, ein Interesse18 ausfindig und begreiflich zu machen, welches der Mensch an moralischen Gesetzen nehmen könne, einerlei; und gleichwohl nimmt er wirklich daran ein Interesse, wozu wir die Grundlage in uns das moralische Gefühl nennen, welches fälschlich für das Richtmaß unserer sittlichen Beurteilung von einigen ausgegeben worden, da es vielmehr als die subjektive[97] Wirkung, die das Gesetz auf den Willen ausübt, angesehen werden muß, wozu Vernunft allein die objektiven Gründe hergibt.

Um das zu wollen, wozu die Vernunft allein dem sinnlich-affizierten vernünftigen Wesen das Sollen vorschreibt, dazu gehört freilich ein Vermögen der Vernunft, ein Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens an der Erfüllung der Pflicht einzuflößen, mithin eine Kausalität derselben, die Sinnlichkeit ihren Prinzipien gemäß zu bestimmen. Es ist aber gänzlich unmöglich, einzusehen, d.i. a priori begreiflich zu machen, wie ein bloßer Gedanke, der selbst nichts Sinnliches in sich enthält, eine Empfindung der Lust oder Unlust hervorbringe; denn das ist eine besondere Art von Kausalität, von der, wie von aller Kausalität, wir gar nichts a priori bestimmen können, sondern darum allein die Erfahrung befragen müssen. Da diese aber kein Verhältnis der Ursache zur Wirkung, als zwischen zwei Gegenständen der Erfahrung, an die Hand geben kann, hier aber reine Vernunft durch bloße Ideen (die gar keinen Gegenstand für Erfahrung abgeben) die Ursache von einer Wirkung, die freilich in der Erfahrung liegt, sein soll, so ist die Erklärung, wie und warum uns die Allgemeinheit der Maxime als Gesetzes, mithin die Sittlichkeit, interessiere, uns Menschen gänzlich unmöglich. So viel ist nur gewiß: daß es nicht darum für uns Gültigkeit hat, weil es interessiert (denn das ist Heteronomie und Abhängigkeit der praktischen Vernunft von Sinnlichkeit, nämlich einem zum Grunde liegenden Gefühl, wobei sie niemals sittlich gesetzgebend sein könnte), sondern daß es interessiert, weil es für uns als Menschen gilt, da es aus unserem Willen als Intelligenz, mithin aus unserem eigentlichen Selbst, entsprungen ist; was aber zur bloßen Erscheinung gehört, wird von der Vernunft notwendig der Beschaffenheit der Sache an sich selbst untergeordnet.

Die Frage also: wie ein kategorischer Imperativ möglich sei, kann zwar so weit beantwortet werden, als man die einzige Voraussetzung angeben kann, unter der er allein möglich ist, nämlich die Idee der Freiheit, imgleichen als man[98] die Notwendigkeit dieser Voraussetzung einsehen kann, welches zum praktischen Gebrauche der Vernunft, d.i. zur Überzeugung von der Gültigkeit dieses Imperativs, mithin auch des sittlichen Gesetzes, hinreichend ist, aber wie diese Voraussetzung selbst möglich sei, läßt sich durch keine menschliche Vernunft jemals einsehen. Unter Voraussetzung der Freiheit des Willens einer Intelligenz aber ist die Autonomie desselben, als die formale Bedingung, unter der er allein bestimmt werden kann, eine notwendige Folge. Diese Freiheit des Willens vorauszusetzen, ist auch nicht allein (ohne in Widerspruch mit dem Prinzip der Naturnotwendigkeit in der Verknüpfung der Erscheinungen der Sinnenwelt zu geraten) ganz wohl möglich (wie die spekulative Philosophie zeigen kann), sondern auch, sie praktisch, d.i. in der Idee allen seinen willkürlichen Handlungen, als Bedingung, unterzulegen, ist einem vernünftigen Wesen, das sich seiner Kausalität durch Vernunft, mithin eines Willens (der von Begierden unterschieden ist) bewußt ist, ohne weitere Bedingung notwendig. Wie nun aber reine Vernunft, ohne andere Triebfedern, die irgend woher sonsten genommen sein mögen, für sich selbst praktisch sein, d.i. wie das bloße Prinzip der Allgemeingültigkeit aller ihrer Maximen als Gesetze (welches freilich die Form einer reinen praktischen Vernunft sein würde), ohne alle Materie (Gegenstand) des Willens, woran man zum voraus irgend ein Interesse nehmen dürfe, für sich selbst eine Triebfeder abgeben, und ein Interesse, welches rein moralisch heißen würde, bewirken, oder mit anderen Worten: wie reine Vernunft praktisch sein könne, das zu erklären, dazu ist alle menschliche Vernunft gänzlich unvermögend, und alle Mühe und Arbeit, hievon Erklärung zu suchen, ist verloren.

Es ist eben dasselbe, als ob ich zu ergründen suchte, wie Freiheit selbst als Kausalität eines Willens möglich sei. Denn da verlasse ich den philosophischen Erklärungsgrund, und habe keinen anderen. Zwar könnte ich nun in der intelligibelen Welt, die mir noch übrig bleibt, in der Welt der Intelligenzen herumschwärmen; aber, ob ich gleich davon[99] eine Idee habe, die ihren guten Grund hat, so habe ich doch von ihr nicht die mindeste Kenntnis, und kann auch zu dieser durch alle Bestrebung meines natürlichen Vernunftvermögens niemals gelangen. Sie bedeutet nur ein Etwas, das da übrig bleibt, wenn ich alles, was zur Sinnenwelt gehöret, von den Bestimmungsgründen meines Willens ausgeschlossen habe, bloß um das Prinzip der Bewegursachen aus dem Felde der Sinnlichkeit einzuschränken, dadurch, daß ich es begrenze, und zeige, daß es nicht alles in allem in sich fasse, sondern daß außer ihm noch mehr sei; dieses Mehrere aber kenne ich nicht weiter. Von der reinen Vernunft, die dieses Ideal denkt, bleibt nach Absonderung aller Materie, d.i. Erkenntnis der Objekte, mir nichts, als die Form übrig, nämlich das praktische Gesetz der Allgemeingültigkeit der Maximen, und, diesem gemäß, die Vernunft in Beziehung auf eine reine Verstandeswelt als mögliche wirkende, d.i. als den Willen bestimmende, Ursache zu denken; die Triebfeder muß hier gänzlich fehlen; es müßte denn diese Idee einer intelligibelen Welt selbst die Triebfeder, oder dasjenige sein, woran die Vernunft ursprünglich ein Interesse nähme; welches aber begreiflich zu machen gerade die Aufgabe ist, die wir nicht auflösen können.

Hier ist nun die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung; welche aber zu bestimmen auch schon darum von großer Wichtigkeit ist, damit die Vernunft nicht einerseits in der Sinnenwelt, auf eine den Sitten schädliche Art, nach der obersten Bewegursache und einem begreiflichen aber empirischen Interesse herumsuche, anderer Seits aber, damit sie auch nicht in dem für sie leeren Raum transzendenter Begriffe, unter dem Namen der intelligibelen Welt, kraftlos ihre Flügel schwinge, ohne von der Stelle zu kommen, und sich unter Hirngespinsten verliere, übrigens bleibt die Idee einer reinen Verstandeswelt, als eines Ganzen aller Intelligenzen, wozu wir selbst, als vernünftige Wesen (obgleich andererseits zugleich Glieder der Sinnenwelt) gehören, immer eine brauchbare und erlaubte Idee zum Behufe eines vernünftigen Glaubens, wenn gleich alles Wissen an der Grenze derselben ein Ende hat, um durch das[100] herrliche Ideal eines allgemeinen Reichs der Zwecke an sich selbst (vernünftiger Wesen), zu welchen wir nur alsdann als Glieder gehören können, wenn wir uns nach Maximen der Freiheit, als ob sie Gesetze der Natur wären, sorgfältig verhalten, ein lebhaftes Interesse an dem moralischen Gesetze in uns zu bewirken.

18

Interesse ist das, wodurch Vernunft praktisch, d.i. eine den Willen bestimmende Ursache wird. Daher sagt man nur von einem, vernünftigen Wesen, daß es woran ein Interesse nehme, vernunftlose Geschöpfe fühlen nur sinnliche Antriebe. Ein unmittelbares Interesse nimmt die Vernunft nur alsdenn an der Handlung, wenn die Allgemeingültigkeit der Maxime derselben ein gnugsamer Bestimmungsgrund des Willens ist. Ein solches Interesse ist allein rein. Wenn sie aber den Willen nur vermittelst eines anderen Objekts des Begehrens, oder unter Voraussetzung eines besonderen Gefühls des Subjekts bestimmen kann, so nimmt die Vernunft nur ein mittelbares Interesse an der Handlung, und, da Vernunft für sich allein weder Objekte des Willens, noch ein besonderes ihm zu Grunde liegendes Gefühl ohne Erfahrung ausfindig machen kann, so würde das letztere Interesse nur empirisch und kein reines Vernunftinteresse sein. Das logische Interesse der Vernunft (ihre Einsichten zu befördern) ist niemals unmittelbar, sondern setzt Absichten ihres Gebrauchs voraus.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977, S. 91-101.
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