§ 9. Untersuchung der Frage: Ob im Geschmacksurteile das Gefühl der Lust vor der Beurteilung des Gegenstandes, oder diese vor jener vorhergehe

[131] Die Auflösung dieser Aufgabe ist der Schlüssel zur Kritik des Geschmacks, und daher aller Aufmerksamkeit würdig.

Ginge die Lust an dem gegebenen Gegenstande vorher, und nur die allgemeine Mitteilbarkeit derselben sollte im Geschmacksurteile der Vorstellung des Gegenstandes zuerkannt werden, so würde ein solches Verfahren mit sich selbst im Widerspruche stehen. Denn dergleichen Lust würde keine andere, als die bloße Annehmlichkeit in der Sinnenempfindung sein, und daher ihrer Natur nach nur Privatgültigkeit haben können, weil sie von der Vorstellung, wodurch der Gegenstand gegeben wird, unmittelbar abhinge.

Also ist es die allgemeine Mitteilungsfähigkeit des Gemütszustandes in der gegebenen Vorstellung, welche, als subjektive Bedingung des Geschmacksurteils, demselben zum Grunde liegen, und die Lust an dem Gegenstande zur Folge haben muß. Es kann aber nichts allgemein mitgeteilt werden, als Erkenntnis, und Vorstellung, sofern sie zum Erkenntnis gehört. Denn sofern ist die letztere nur allein objektiv, und hat nur dadurch einen allgemeinen Beziehungspunkt, womit die Vorstellungskraft aller zusammenzustimmen genötiget wird. Soll nun der Bestimmungsgrund des Urteils über diese allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellung bloß subjektiv, nämlich ohne einen Begriff vom Gegenstande gedacht werden, so kann er kein anderer als der Gemütszustand[131] sein, der im Verhältnisse der Vorstellungskräfte zu einander angetroffen wird, sofern sie eine gegebene Vorstellung auf Erkenntnis überhaupt beziehen.

Die Erkenntniskräfte, die durch diese Vorstellung ins Spiel gesetzt werden, sind hiebei in einem freien Spiele, weil kein bestimmter Begriff sie auf eine besondere Erkenntnisregel einschränkt. Also muß der Gemütszustand in dieser Vorstellung der eines Gefühls des freien Spiels der Vorstellungskräfte an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt sein. Nun gehören zu einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, damit überhaupt daraus Erkenntnis werde, Einbildungskraft für die Zusammensetzung des Mannigfaltigen der Anschauung, und Verstand für die Einheit des Begriffs, der die Vorstellungen vereinigt. Dieser Zustand eines freien Spiels der Erkenntnisvermögen, bei einer Vorstellung, wodurch ein Gegenstand gegeben wird, muß sich allgemein mitteilen lassen: weil Erkenntnis, als Bestimmung des Objekts, womit gegebene Vorstellungen (in welchem Subjekte es auch sei) zusammen stimmen sollen, die einzige Vorstellungsart ist, die für jedermann gilt.

Die subjektive allgemeine Mitteilbarkeit der Vorstellungsart in einem Geschmacksurteile, da sie, ohne einen bestimmten Begriff vorauszusetzen. Statt finden soll, kann nichts anders als der Gemütszustand in dem freien Spiele der Einbildungskraft und des Verstandes (sofern sie unter einander, wie es zu einem Erkenntnisse überhaupt erforderlich ist, zusammen stimmen) sein, indem wir uns bewußt sind, daß dieses zum Erkenntnis überhaupt schickliche subjektive Verhältnis eben so wohl für jedermann gelten und folglich allgemein mitteilbar sein müsse, als es eine jede bestimmte Erkenntnis ist, die doch immer auf jenem Verhältnis als subjektiver Bedingung beruht.

Diese bloß subjektive (ästhetische) Beurteilung des Gegenstandes, oder der Vorstellung, wodurch er gegeben wird, geht nun vor der Lust an demselben vorher, und ist der Grund dieser Lust an der Harmonie der Erkenntnisvermögen; auf jener Allgemeinheit[132] aber der subjektiven Bedingungen der Beurteilung der Gegenstände gründet sich allein diese allgemeine subjektive Gültigkeit des Wohlgefallens, welches wir mit der Vorstellung des Gegenstandes, den wir schön nennen, verbinden.

Daß, seinen Gemütszustand, selbst auch nur in Ansehung der Erkenntnisvermögen, mitteilen zu können, eine Lust bei sich führe: könnte man aus dem natürlichen Hange des Menschen zur Geselligkeit (empirisch und psychologisch) leichtlich dartun. Das ist aber zu unserer Absicht nicht genug. Die Lust, die wir fühlen, muten wir jedem andern im Geschmacksurteile als notwendig zu, gleich als ob es für eine Beschaffenheit des Gegenstandes, die an ihm nach Begriffen bestimmt ist, anzusehen wäre, wenn wir etwas schön nennen; da doch Schönheit ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts für sich nichts ist. Die Erörterung dieser Frage aber müssen wir uns bis zur Beantwortung derjenigen: ob und wie ästhetische Urteile a priori möglich sind, vorbehalten.

Jetzt beschäftigen wir uns noch mit der mindern Frage: auf welche Art wir uns einer wechselseitigen subjektiven Übereinstimmung der Erkenntniskräfte unter einander im Geschmacksurteile bewußt werden, ob ästhetisch durch den bloßen innern Sinn und Empfindung, oder intellektuell durch das Bewußtsein unserer absichtlichen Tätigkeit, womit wir jene ins Spiel setzen.

Wäre die gegebene Vorstellung, welche das Geschmacksurteil veranlaßt, ein Begriff, welcher Verstand und Einbildungskraft in der Beurteilung des Gegenstandes zu einem Erkenntnisse des. Objekts vereinigte, so wäre das Bewußtsein dieses Verhältnisses intellektuell (wie im objektiven Schematism der Urteilskraft, wovon die Kritik handelt). Aber das Urteil wäre auch alsdenn nicht in Beziehung auf Lust und Unlust gefället, mithin kein Geschmacksurteil. Nun bestimmt aber das Geschmacksurteil, unabhängig von Begriffen, das Objekt in Ansehung des Wohlgefallens und des Prädikats der Schönheit. Also kann jene subjektive Einheit des Verhältnisses sich nur durch Empfindung kenntlich machen. Die Belebung beider Vermögen (der Einbildungskraft[133] und des Verstandes) zu unbestimmter, aber doch, vermittelst des Anlasses der gegebenen Vorstellung, einhelliger Tätigkeit, derjenigen nämlich, die zu einem Erkenntnis überhaupt gehört, ist die Empfindung, deren allgemeine Mitteilbarkeit das Geschmacksurteil postuliert. Ein objektives Verhältnis kann zwar nur gedacht, aber, so fern es seinen Bedingungen nach subjektiv ist, doch in der Wirkung auf das Gemüt empfunden werden; und bei einem Verhältnisse, welches keinen Begriff zum Grunde legt (wie das der Vorstellungskräfte zu einem Erkenntnisvermögen überhaupt), ist auch kein anderes Bewußtsein desselben, als durch Empfindung der Wirkung, die im erleichterten Spiele beider durch wechselseitige Zusammenstimmung belebten Gemütskräfte (der Einbildungskraft und des Verstandes) besteht, möglich. Eine Vorstellung, die, als einzeln und ohne Vergleichung mit andern, dennoch eine Zusammenstimmung zu den Bedingungen der Allgemeinheit hat, welche das Geschäft des Verstandes überhaupt ausmacht, bringt die Erkenntnisvermögen in die proportionierte Stimmung, die wir zu allem Erkenntnisse fordern, und daher auch für jedermann, der durch Verstand und Sinne in Verbindung zu urteilen bestimmt ist (für jeden Menschen), gültig halten.


Aus dem zweiten Moment gefolgerte Erklärung des Schönen

Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 131-134.
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