§ 30. Die Deduktion der ästhetischen Urteile über die Gegenstände der Natur darf nicht auf das, was wir in dieser Erhaben nennen, sondern nur auf das Schöne, gerichtet werden

[207] Der Anspruch eines ästhetischen Urteils auf allgemeine Gültigkeit für jedes Subjekt bedarf, als ein Urteil, welches sich auf irgend ein Prinzip a priori fußen muß, einer Deduktion (d.i. Legitimation seiner Anmaßung); welche über die Exposition desselben noch hinzukommen muß, wenn es nämlich ein Wohlgefallen oder Mißfallen an der Form des Objekts betrifft. Dergleichen sind die Geschmacksurteile über das Schöne der Natur. Denn die Zweckmäßigkeit hat alsdann doch im Objekte und seiner Gestalt ihren Grund, wenn sie gleich nicht die Beziehung desselben auf andere Gegenstände nach Begriffen (zum Erkenntnisurteile) anzeigt, sondern bloß die Auffassung dieser Form, sofern sie dem Vermögen sowohl der Begriffe, als dem der Darstellung derselben (welches mit dem der Auffassung eines und dasselbe ist) im Gemüt sich gemäß zeigt, überhaupt betrifft. Man kann daher auch in Ansehung des Schönen der Natur mancherlei Fragen aufwerfen, welche die Ursache dieser Zweckmäßigkeit ihrer Formen betreffen: z.B. wie[207] man erklären wolle, warum die Natur so verschwenderisch allerwärts Schönheit verbreitet habe, selbst im Grunde des Ozeans, wo nur selten das menschliche Auge (für welches jene doch allein zweckmäßig ist) hingelangt? u.d.gl.m.

Allein das Erhabene der Natur – wenn wir darüber ein reines ästhetisches Urteil fällen, welches nicht mit Begriffen von Vollkommenheit, als objektiver Zweckmäßigkeit, vermengt ist; in welchem Falle es ein teleologisches Urteil sein würde – kann ganz als formlos oder ungestalt, dennoch aber als Gegenstand eines reinen Wohlgefallens betrachtet werden, und subjektive Zweckmäßigkeit der gegebenen Vorstellung zeigen; und da fragt es sich nun: ob zu dem ästhetischen Urteile dieser Art auch, außer der Exposition dessen, was in ihm gedacht wird, noch eine Deduktion seines Anspruchs auf irgend ein (subjektives) Prinzip a priori verlangt werden könne.

Hierauf dient zur Antwort: daß das Erhabene der Natur nur uneigentlich so genannt werde, und eigentlich bloß der Denkungsart, oder vielmehr der Grundlage zu derselben in der menschlichen Natur, beigelegt werden müsse. Dieser sich bewußt zu werden gibt die Auffassung eines sonst formlosen und unzweckmäßigen Gegenstandes bloß die Veranlassung, welcher auf solche Weise subjektiv-zweckmäßig gebraucht, aber nicht als ein solcher für sich und seiner Form wegen beurteilt wird (gleichsam species finalis accepta, non data). Daher war unsere Exposition der Urteile über das Erhabene der Natur zugleich ihre Deduktion. Denn, wenn wir die Reflexion der Urteilskraft in denselben zerlegten, so fanden wir in ihnen ein zweckmäßiges Verhältnis der Erkenntnisvermögen, welches dem Vermögen der Zwecke (dem Willen) a priori zum Grunde gelegt werden muß, und daher selbst a priori zweckmäßig ist: welches denn sofort die Deduktion, d.i. die Rechtfertigung des Anspruchs eines dergleichen Urteils auf allgemein-notwendige Gültigkeit, enthält.[208]

Wir werden also nur die Deduktion der Geschmacksurteile, d.i. der Urteile über die Schönheit der Naturdinge, zu suchen haben, und so der Aufgabe für die gesamte ästhetische Urteilskraft im Ganzen ein Genüge tun.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 207-209.
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