§ 32. Erste Eigentümlichkeit des Geschmacksurteils

[210] Das Geschmacksurteil bestimmt seinen Gegenstand in Ansehung des Wohlgefallens (als Schönheit) mit einem Anspruche auf jedermanns Beistimmung, als ob es objektiv wäre.

Sagen: diese Blume ist schön, heißt eben so viel, als ihren eigenen Anspruch auf jedermanns Wohlgefallen ihr nur nachsagen. Durch die Annehmlichkeit ihres Geruchs hat sie[210] gar keine Ansprüche. Den einen ergötzt dieser Geruch, dem andern benimmt er den Kopf. Was sollte man nun anders daraus vermuten, als daß die Schönheit für eine Eigenschaft der Blume selbst gehalten werden müsse, die sich nicht nach der Verschiedenheit der Köpfe und so vieler Sinne richtet, sondern wornach sich diese richten müssen, wenn sie darüber urteilen wollen? Und doch verhält es sich nicht so. Denn darin besteht eben das Geschmacksurteil, daß es eine Sache nur nach derjenigen Beschaffenheit schön nennt, in welcher sie sich nach unserer Art sie aufzunehmen richtet.

Überdies wird von jedem Urteil, welches den Geschmack des Subjekts beweisen soll, verlangt: daß das Subjekt für sich, ohne nötig zu haben, durch Erfahrung unter den Urteilen anderer herumzutappen, und sich von ihrem Wohlgefallen oder Mißfallen an demselben Gegenstande vorher zu belehren, urteilen, mithin sein Urteil nicht als Nachahmung, weil ein Ding etwa wirklich allgemein gefällt, sondern a priori absprechen solle. Man sollte aber denken, daß ein Urteil a priori einen Begriff vom Objekt enthalten müsse, zu dessen Erkenntnis es das Prinzip enthält; das Geschmacksurteil aber gründet sich gar nicht auf Begriffe, und ist überall nicht Erkenntnis, sondern nur ein ästhetisches Urteil.

Daher läßt sich ein junger Dichter von der Überredung, daß sein Gedicht schön sei, nicht durch das Urteil des Publikums, noch seiner Freunde abbringen; und, wenn er ihnen Gehör gibt, so geschieht es nicht darum, weil er es nun anders beurteilt, sondern weil er, wenn gleich (wenigstens in Absicht seiner) das ganze Publikum einen falschen Geschmack hätte, sich doch (selbst wider sein Urteil) dem gemeinen Wahne zu bequemen, in seiner Begierde nach Beifall Ursache findet. Nur späterhin, wenn seine Urteilskraft durch Ausübung mehr geschärft worden, geht er freiwillig von seinem vorigen Urteile ab; so wie er es auch mit seinen[211] Urteilen hält, die ganz auf der Vernunft beruhen. Der Geschmack macht bloß auf Autonomie Anspruch. Fremde Urteile sich zum Bestimmungsgrunde des seinigen zu machen, wäre Heteronomie.

Daß man die Werke der Alten mit Recht zu Mustern anpreiset, und die Verfasser derselben klassisch nennt, gleich einem gewissen Adel unter den Schriftstellern, der dem Volke durch seinen Vorgang Gesetze gibt: scheint Quellen des Geschmacks a posteriori anzuzeigen, und die Autonomie desselben in jedem Subjekte zu widerlegen. Allein man könnte eben so gut sagen, daß die alten Mathematiker, die bis jetzt für nicht wohl zu entbehrende Muster der höchsten Gründlichkeit und Eleganz der synthetischen Methode gehalten werden, auch eine nachahmende Vernunft auf unserer Seite bewiesen, und ein Unvermögen derselben, aus sich selbst strenge Beweise mit der größten Intuition, durch Konstruktion der Begriffe, hervorzubringen. Es gibt gar keinen Gebrauch unserer Kräfte, so frei er auch sein mag, und selbst der Vernunft (die alle ihre Urteile aus der gemeinschaftlichen Quelle a priori schöpfen muß), welcher, wenn jedes Subjekt immer gänzlich von der rohen Anlage seines Naturells anfangen sollte, nicht in fehlerhafte Versuche geraten würde, wenn nicht andere mit den ihrigen ihm vorgegangen wären, nicht um die Nachfolgenden zu bloßen Nachahmern zu machen, sondern durch ihr Verfahren andere auf die Spur zu bringen, um die Prinzipien in sich selbst zu suchen, und so ihren eigenen, oft besseren, Gang zu nehmen. Selbst in der Religion, wo gewiß ein jeder die Regel seines Verhaltens aus sich selbst hernehmen muß, weil er dafür auch selbst verantwortlich bleibt, und die Schuld seiner Vergehungen nicht auf andre, als Lehrer oder Vorgänger, schieben kann, wird doch nie durch allgemeine Vorschriften, die man entweder von Priestern oder Philosophen bekommen, oder auch aus sich selbst genommen haben mag, so viel ausgerichtet werden, als durch ein Beispiel der Tugend oder Heiligkeit, welches, in der Geschichte aufgestellt, die Autonomie[212] der Tugend, aus der eigenen und ursprünglichen Idee der Sittlichkeit (a priori), nicht entbehrlich macht, oder diese in einen Mechanism der Nachahmung verwandelt. Nachfolge, die sich auf einen Vorgang bezieht, nicht Nachahmung, ist der rechte Ausdruck für allen Einfluß, welchen Produkte eines exemplarischen Urhebers auf andere haben können; welches nur so viel bedeutet, als: aus denselben Quellen schöpfen, woraus jener selbst schöpfte, und seinem Vorgänger nur die Art, sich dabei zu benehmen, ablernen. Aber unter allen Vermögen und Talenten ist der Geschmack gerade dasjenige, welches, weil sein Urteil nicht durch Begriffe und Vorschriften bestimmbar ist, am meisten der Beispiele dessen, was sich im Fortgange der Kultur am längsten in Beifall erhalten hat, bedürftig ist, um nicht bald wieder ungeschlacht zu werden, und in die Rohigkeit der ersten Versuche zurückzufallen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 210-213.
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