§ 48. Vom Verhältnisse des Genies zum Geschmack

[246] Zur Beurteilung schöner Gegenstände, als solcher, wird Geschmack, zur schönen Kunst selbst aber, d.i. der Hervorbringung solcher Gegenstände, wird Genie erfordert.

Wenn man das Genie als Talent zur schönen Kunst betrachtet (welches die eigentümliche Bedeutung des Worts mit sich bringt), und es in dieser Absicht in die Vermögen zergliedern will, die ein solches Talent auszumachen zusammen kommen müssen: so ist nötig, zuvor den Unterschied zwischen der Naturschönheit, deren Beurteilung nur Geschmack, und der Kunstschönheit, deren Möglichkeit (worauf in der Beurteilung eines dergleichen Gegenstandes auch Rücksicht genommen werden muß) Genie erfordert, genau zu bestimmen.

Eine Naturschönheit ist ein schönes Ding; die Kunstschönheit ist eine schöne Vorstellung von einem Dinge.

Um eine Naturschönheit als eine solche zu beurteilen, brauche ich nicht vorher einen Begriff davon zu haben, was der Gegenstand für ein Ding sein solle; d.i. ich habe nicht nötig, die materiale Zweckmäßigkeit (den Zweck) zu kennen, sondern die bloße Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt in der Beurteilung für sich selbst. Wenn aber der Gegenstand[246] für ein Produkt der Kunst gegeben ist, und als solches für schön erklärt werden soll: so muß, weil Kunst immer einen Zweck in der Ursache (und deren Kausalität) voraussetzt, zuerst ein Begriff von dem zum Grunde gelegt werden, was das Ding sein soll; und, da die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen in einem Dinge, zu einer innern Bestimmung desselben als Zweck, die Vollkommenheit des Dinges ist, so wird in der Beurteilung der Kunstschönheit zugleich die Vollkommenheit des Dinges in Anschlag gebracht werden müssen, wornach in der Beurteilung einer Naturschönheit (als einer solchen) gar nicht die Frage ist. – Zwar wird in der Beurteilung, vornehmlich der belebten Gegenstände der Natur, z.B. des Menschen oder eines Pferdes, auch die objektive Zweckmäßigkeit gemeiniglich mit in Betracht gezogen, um über die Schönheit derselben zu urteilen; alsdann ist aber auch das Urteil nicht mehr rein ästhetisch, d.i. bloßes Geschmacksurteil. Die Natur wird nicht mehr beurteilt, wie sie als Kunst erscheint, sondern sofern sie wirklich (obzwar übermenschliche) Kunst ist; und das teleologische Urteil dient dem ästhetischen zur Grundlage und Bedingung, worauf dieses Rücksicht nehmen muß. In einem solchen Falle denkt man auch, wenn z.B. gesagt wird: »das ist ein schönes Weib«, in der Tat nichts anders, als: die Natur stellt in ihrer Gestalt die Zwecke im weiblichen Baue schön vor; denn man muß noch über die bloße Form auf einen Begriff hinaussehen, damit der Gegenstand auf solche Art durch ein logisch-bedingtes ästhetisches Urteil gedacht werde.

Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u.d.gl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde vorgestellt werden; nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zu Grunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt. Denn, weil[247] in dieser sonderbaren, auf lauter Einbildung beruhenden Empfindung der Gegenstand gleichsam, als ob er sich zum Genüsse aufdränge, wider den wir doch mit Gewalt streben, vorgestellt wird: so wird die künstliche Vorstellung des Gegenstandes von der Natur dieses Gegenstandes selbst in unserer Empfindung nicht mehr unterschieden, und jene kann alsdann unmöglich für schön gehalten werden. Auch hat die Bildhauerkunst, weil an ihren Produkten die Kunst mit der Natur beinahe verwechselt wird, die unmittelbare Vorstellung häßlicher Gegenstände von ihren Bildungen ausgeschlossen, und dafür z.B. den Tod (in einem schönen Genius), den Kriegsmut (am Mars) durch eine Allegorie oder Attribute, die sich gefällig ausnehmen, mithin nur indirekt vermittelst einer Auslegung der Vernunft, und nicht für bloß ästhetische Urteilskraft, vorzustellen erlaubt.

So viel von der schönen Vorstellung eines Gegenstandes, die eigentlich nur die Form der Darstellung eines Begriffs ist, durch welche dieser allgemein mitgeteilt wird. – Diese Form aber dem Produkte der schönen Kunst zu geben, dazu wird bloß Geschmack erfordert, an welchem der Künstler, nachdem er ihn durch mancherlei Beispiele der Kunst, oder der Natur, geübt und berichtigt hat, sein Werk hält, und, nach manchen oft mühsamen Versuchen, denselben zu befriedigen, diejenige Form findet, die ihm Genüge tut: daher diese nicht gleichsam eine Sache der Eingebung, oder eines freien Schwunges der Gemütskräfte, sondern einer langsamen und gar peinlichen Nachbesserung ist, um sie dem Gedanken angemessen und doch der Freiheit im Spiele derselben nicht nachteilig werden zu lassen.

Geschmack ist aber bloß ein Beurteilungs-, nicht ein produktives Vermögen; und, was ihm gemäß ist, ist darum eben nicht ein Werk der schönen Kunst: es kann ein zur nützlichen und mechanischen Kunst, oder gar zur Wissenschaft gehöriges Produkt nach bestimmten Regeln sein, die gelernt werden können und genau befolgt werden müssen. Die gefällige Form aber, die man ihm gibt, ist nur das Vehikel der Mitteilung und eine Manier gleichsam des Vortrages,[248] in Ansehung dessen man noch in gewissem Maße frei bleibt, wenn er doch übrigens an einen bestimmten Zweck gebunden ist. So verlangt man, daß das Tischgeräte, oder auch eine moralische Abhandlung, sogar eine Predigt diese Form der schönen Kunst, ohne doch gesucht zu scheinen, an sich haben müsse; man wird sie aber darum nicht Werke der schönen Kunst nennen. Zu der letzteren aber wird ein Gedicht, eine Musik, eine Bildergalerie u.d.gl. gezählt; und da kann man an einem seinsollenden Werke der schönen Kunst oftmals Genie ohne Geschmack, an einem andern Geschmack ohne Genie, wahrnehmen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 246-249.
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