§ 56. Vorstellung der Antinomie des Geschmacks

[278] Der erste Gemeinort des Geschmacks ist in dem Satze, womit sich jeder Geschmacklose gegen Tadel zu verwahren denkt, enthalten: Ein jeder hat seinen eignen Geschmack. Das heißt so viel, als: der Bestimmungsgrund dieses Urteils ist bloß subjektiv (Vergnügen oder Schmerz); und das Urteil hat kein Recht auf die notwendige Beistimmung anderer.

Der zweite Gemeinort desselben, der auch von denen sogar gebraucht wird, die dem Geschmacksurteile das Recht[278] einräumen, für jedermann gültig auszusprechen, ist: über den Geschmack läßt sich nicht disputieren. Das heißt so viel, als: der Bestimmungsgrund eines Geschmacksurteils mag zwar auch objektiv sein, aber er läßt sich nicht auf bestimmte Begriffe bringen; mithin kann über das Urteil selbst durch Beweise nichts entschieden werden, obgleich darüber gar wohl und mit Recht gestritten werden kann. Denn Streiten und Disputieren sind zwar darin einerlei, daß sie durch wechselseitigen Widerstand der Urteile Einhelligkeit derselben hervorzubringen suchen, darin aber verschieden, daß das letztere dieses nach bestimmten Begriffen als Beweisgründen zu bewirken hofft, mithin objektive Begriffe als Gründe des Urteils annimmt. Wo dieses aber als untunlich betrachtet wird, da wird das Disputieren eben sowohl als untunlich beurteilt.

Man sieht leicht, daß zwischen diesen zweien Gemeinörtern ein Satz fehlt, der zwar nicht sprichwörtlich im Umlaufe, aber doch in jedermanns Sinne enthalten ist, nämlich: über den Geschmack läßt sich streiten (obgleich nicht disputieren). Dieser Satz aber enthält das Gegenteil des obersten Satzes. Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein, unter einander überein zu kommen; mithin muß man auf Gründe des Urteils, die nicht bloß Privatgültigkeit haben und also nicht bloß subjektiv sind, rechnen können; welchem gleichwohl jener Grundsatz: ein jeder hat seinen eignen Geschmack, gerade entgegen ist.

Es zeigt sich also in Ansehung des Prinzips des Geschmacks folgende Antinomie:

1) Thesis. Das Geschmacksurteil gründet sich nicht auf Begriffen; denn sonst ließe sich darüber disputieren (durch Beweise entscheiden).

2) Antithesis. Das Geschmacksurteil gründet sich auf Begriffen; denn sonst ließe sich, ungeachtet der Verschiedenheit desselben, darüber auch nicht einmal streiten (auf die notwendige Einstimmung anderer mit diesem Urteile Anspruch machen).

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 278-279.
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