§ 71. Vorbereitung zur Auflösung obiger Antinomie

[338] Wir können die Unmöglichkeit der Erzeugung der organisierten Naturprodukte durch den bloßen Mechanism der Natur keinesweges beweisen, weil wir die unendliche Mannigfaltigkeit der besondern Naturgesetze, die für uns zufällig sind, da sie nur empirisch erkannt werden, ihrem ersten innern Grunde nach nicht einsehen, und so das innere durchgängig zureichende Prinzip der Möglichkeit einer Natur (welches im Übersinnlichen liegt) schlechterdings nicht erreichen können. Ob also das produktive Vermögen der Natur auch für dasjenige, was wir, als nach der Idee von Zwecken geformt oder verbunden, beurteilen, nicht eben so gut als für das, wozu wir bloß ein Maschinenwesen der Natur zu bedürfen glauben, zulange; und ob in der Tat für Dinge als eigentliche Naturzwecke (wie wir sie notwendig beurteilen müssen) eine ganz andere Art von ursprünglicher Kausalität, die gar nicht in der materiellen Natur oder ihrem intelligibelen Substrat enthalten sein kann, nämlich ein architektonischer Verstand zum Grunde liege: darüber kann unsere in Ansehung des Begriffs der Kausalität, wenn er a priori spezifiziert werden soll, sehr enge eingeschränkte Vernunft schlechterdings keine Auskunft geben. – Aber daß, respektiv[338] auf unser Erkenntnisvermögen, der bloße Mechanism der Natur für die Erzeugung organisierter Wesen auch keinen Erklärungsgrund abgeben könne, ist eben so ungezweifelt gewiß. Für die reflektierende Urteilskraft ist also das ein ganz richtiger Grundsatz: daß für die so offenbare Verknüpfung der Dinge nach Endursachen eine vom Mechanism unterschiedene Kausalität, nämlich einer nach Zwecken handelnden (verständigen) Weltursache gedacht werden müsse; so übereilt und unerweislich er auch für die bestimmende sein würde. In dem ersteren Falle ist er bloße Maxime der Urteilskraft, wobei der Begriff jener Kausalität eine bloße Idee ist, der man keinesweges Realität zuzugestehen unternimmt, sondern sie nur zum Leitfaden der Reflexion braucht, die dabei für alle mechanische Erklärungsgründe immer offen bleibt, und sich nicht aus der Sinnenwelt verliert; im zweiten Falle würde der Grundsatz ein objektives Prinzip sein, das die Vernunft vorschriebe und dem die Urteilskraft sich bestimmend unterwerfen müßte, wobei sie aber über die Sinnenwelt hinaus sich ins Überschwengliche verliert, und vielleicht irre geführt wird.

Aller Anschein einer Antinomie zwischen den Maximen der eigentlich physischen (mechanischen) und der teleologischen (technischen) Erklärungsart beruht also darauf: daß man einen Grundsatz der reflektierenden Urteilskraft mit dem der bestimmenden, und die Autonomie der ersteren (die bloß subjektiv für unsern Vernunftgebrauch in Ansehung der besonderen Erfahrungsgesetze gilt) mit der Heteronomie der anderen, welche sich nach den von dem Verstande gegebenen (allgemeinen oder besondern) Gesetzen richten muß, verwechselt.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 338-339.
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