§ 75. Der Begriff einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur ist ein kritisches Prinzip der Vernunft für die reflektierende Urteilskraft

[349] Es ist doch etwas ganz anderes, ob ich sage: die Erzeugung gewisser Dinge der Natur, oder auch der gesamten Natur, ist nur durch eine Ursache, die sich nach Absichten zum Handeln bestimmt, möglich; oder: ich kann nach der eigentümlichen Beschaffenheit meiner Erkenntnisvermögen über die Möglichkeit jener Dinge und ihre Erzeugung nicht anders urteilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches, nach der Analogie mit der Kausalität eines Verstandes, produktiv ist. Im ersteren Falle will ich etwas über das Objekt ausmachen, und bin verbunden, die objektive Realität eines angenommenen Begriffs darzutun; im zweiten bestimmt die Vernunft nur den Gebrauch meiner Erkenntnisvermögen, angemessen ihrer Eigentümlichkeit, und den wesentlichen Bedingungen, ihres Umfanges sowohl, als ihrer Schranken. Also ist das erste Prinzip ein objektiver Grundsatz für die bestimmende, das zweite ein subjektiver Grundsatz bloß für die reflektierende Urteilskraft, mithin eine Maxime derselben, die ihr die Vernunft auferlegt.

Wir haben nämlich unentbehrlich nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisierten Produkten durch fortgesetzte Beobachtung[349] nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige Maxime. Es ist offenbar: daß, da einmal ein solcher Leitfaden, die Natur zu studieren, aufgenommen und bewährt gefunden ist, wir die gedachte Maxime der Urteilskraft auch am Ganzen der Natur wenigstens versuchen müssen, weil sich nach derselben noch manche Gesetze derselben dürften auffinden lassen, die uns, nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanisms derselben, sonst verborgen bleiben würden. Aber in Ansehung des letztern Gebrauchs ist jene Maxime der Urteilskraft zwar nützlich, aber nicht unentbehrlich, weil uns die Natur im Ganzen als organisiert (in der oben angeführten engsten Bedeutung des Worts) nicht gegeben ist. Hingegen in Ansehung der Produkte derselben, welche nur als absichtlich so und nicht anders geformt müssen beurteilt werden, um auch nur eine Erfahrungserkenntnis ihrer innern Beschaffenheit zu bekommen, ist jene Maxime der reflektierenden Urteilskraft wesentlich notwendig: weil selbst der Gedanke von ihnen, als organisierten Dingen, ohne den Gedanken einer Erzeugung mit Absicht damit zu verbinden, unmöglich ist.

Nun ist der Begriff eines Dinges, dessen Existenz oder Form wir uns unter der Bedingung eines Zwecks ab möglich vorstellen, mit dem Begriffe einer Zufälligkeit desselben (nach Naturgesetzen) unzertrennlich verbunden. Daher machen auch die Naturdinge, welche wir nur als Zwecke möglich finden, den vornehmsten Beweis für die Zufälligkeit des Weltganzen aus, und sind der einzige für den gemeinen Verstand eben sowohl als den Philosophen geltende Beweisgrund der Abhängigkeit und des Ursprungs desselben von einem außer der Welt existierenden, und zwar (um jener zweckmäßigen Form willen) verständigen, Wesens: daß also die Teleologie keine Vollendung des Aufschlusses für ihre Nachforschungen, als in einer Theologie, findet.[350]

Was beweiset nun aber am Ende auch die allervollständigste Teleologie? Beweiset sie etwa, daß ein solches verständiges Wesen da sei? Nein; nichts weiter, als daß wir nach Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen, also in Verbindung der Erfahrung mit den obersten Prinzipien der Vernunft, uns schlechterdings keinen Begriff von der Möglichkeit einer solchen Welt machen können, als so, daß wir uns eine absichtlich-wirkende oberste Ursache derselben denken. Objektiv können wir also nicht den Satz dartun: es ist ein verständiges Urwesen; sondern nur subjektiv für den Gebrauch unserer Urteilskraft in ihrer Reflexion über die Zwecke in der Natur, die nach keinem anderen Prinzip als dem einer absichtlichen Kausalität einer höchsten Ursache gedacht werden können.

Wollten wir den obersten Satz dogmatisch, aus teleologischen Gründen, dartun: so würden wir von Schwierigkeiten befangen werden, aus denen wir uns nicht herauswickeln könnten. Denn da würde diesen Schlüssen der Satz zum Grunde gelegt werden müssen: die organisierten Wesen in der Welt sind nicht anders, als durch eine absichtlich-wirkende Ursache möglich. Daß aber, weil wir diese Dinge nur unter der Idee der Zwecke in ihrer Kausalverbindung verfolgen und diese nach ihrer Gesetzmäßigkeit erkennen können, wir auch berechtigt wären, eben dieses auch für jedes denkende und erkennende Wesen, als notwendige, mithin dem Objekte und nicht bloß unserm Subjekte anhängende Bedingung, vorauszusetzen: das müßten wir hiebei unvermeidlich behaupten wollen. Aber mit einer solchen Behauptung kommen wir nicht durch. Denn, da wir die Zwecke in der Natur als absichtliche eigentlich nicht beobachten, sondern nur, in der Reflexion über ihre Produkte, diesen Begriff als einen Leitfaden der Urteilskraft hinzu denken: so sind sie uns nicht durch das Objekt gegeben. A priori ist es sogar für uns unmöglich, einen solchen Begriff, seiner objektiven Realität nach, als annehmungsfähig zu rechtfertigen. Es bleibt also schlechterdings ein nur auf subjektiven[351] Bedingungen, nämlich der unseren Erkenntnisvermögen angemessen reflektierenden Urteilskraft, beruhender Satz, der, wenn man ihn als objektiv-dogmatisch geltend ausdrückte, heißen würde: Es ist ein Gott; nun aber, für uns Menschen, nur die eingeschränkte Formel erlaubt: Wir können uns die Zweckmäßigkeit, die selbst unserer Erkenntnis der inneren Möglichkeit vieler Naturdinge zum Grunde gelegt werden muß, gar nicht anders denken und begreiflich machen, als indem wir sie und überhaupt die Welt uns als ein Produkt einer verständigen Ursache (eines Gottes) vorstellen.

Wenn nun dieser auf einer unumgänglich notwendigen Maxime unserer Urteilskraft gegründete Satz allem sowohl spekulativen als praktischen Gebrauche unserer Vernunft in jeder menschlichen Absicht vollkommen genugtuend ist: so möchte ich wohl wissen, was uns dann darunter abgehe, daß wir ihn nicht auch für höhere Wesen gültig, nämlich aus reinen objektiven Gründen (die leider unser Vermögen übersteigen) beweisen können. Es ist nämlich ganz gewiß, daß wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewiß, daß man dreist sagen kann, es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde: sondern man muß diese Einsicht den Menschen schlechterdings absprechen. Daß dann aber auch in der Natur, wenn wir bis zum Prinzip derselben in der Spezifikation ihrer allgemeinen uns bekannten Gesetze durchdringen könnten, ein hinreichender Grund der Möglichkeit organisierter Wesen, ohne ihrer Erzeugung eine Absicht unterzulegen (also im bloßen Mechanism derselben), gar nicht verborgen liegen könne, das wäre wiederum von uns zu vermessen geurteilt; denn woher wollen wir das wissen? Wahrscheinlichkeiten fallen hier gar weg, wo es auf Urteile der reinen Vernunft ankommt. – Also können wir[352] über den Satz: ob ein nach Absichten handelndes Wesen als Weltursache (mithin als Urheber) dem, was wir mit Recht Naturzwecke nennen, zum Grunde liege, objektiv gar nicht, weder bejahend noch verneinend, urteilen; nur so viel ist sicher, daß, wenn wir doch wenigstens nach dem, was uns einzusehen durch unsere eigene Natur vergönnt ist (nach den Bedingungen und Schranken unserer Vernunft), urteilen sollen, wir schlechterdings nichts anders als ein verständiges Wesen der Möglichkeit jener Naturzwecke zum Grunde legen können: welches der Maxime unserer reflektierenden Urteilskraft, folglich einem subjektiven, aber dem menschlichen Geschlecht unnachlaßlich anhängenden, Grunde allein gemäß ist.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 10, Frankfurt am Main 1977, S. 349-353.
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