VI. Über die Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt

[264] Sie gehen alle vom Grundsätze der Moralität aus, der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch welches Vernunft mittelbar den Willen bestimmt, welcher Wille eben dadurch, daß er so bestimmt ist, als reiner Wille, diese notwendige Bedingungen der Befolgung seiner Vorschrift fodert. Diese Postulate sind nicht theoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwar das spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen der spekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelst ihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität, und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeit auch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßen könnte.

Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört), und des Daseins Gottes. Das erste fließt aus der praktisch notwendigen Bedingung der Angemessenheit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung des moralischen Gesetzes; das zweite aus der notwendigen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sinnenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines Willens, nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt, d.i. der Freiheit; das dritte aus der Notwendigkeit der Bedingung zu einer solchen intelligibelen Welt, um das höchste Gut zu sein, durch die Voraussetzung des höchsten selbständigen Guts, d.i. des Daseins Gottes.[264]

Die durch die Achtung fürs moralische Gesetz notwendige Absicht aufs höchste Gut, und daraus fließende Voraussetzung der objektiven Realität desselben, führt also durch Postulate der praktischen Vernunft zu Begriffen, welche die spekulative Vernunft zwar als Aufgaben vortragen, sie aber nicht auflösen konnte. Also 1. zu derjenigen, in deren Auflösung die letztere nichts, als Paralogismen begehen konnte (nämlich der Unsterblichkeit), weil es ihr am Merkmale der Beharrlichkeit fehlete, um den psychologischen Begriff eines letzten Subjekts, welcher der Seele im Selbstbewußtsein notwendig beigelegt wird, zur realen Vorstellung einer Substanz zu ergänzen, welches die praktische Vernunft, durch das Postulat, einer zur Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze im höchsten Gute, als dem ganzen Zwecke der praktischen Vernunft, erforderlichen Dauer, ausrichtet. 2. Führt sie zu dem, wovon die spekulative Vernunft nichts als Antinomie enthielt, deren Auflösung sie nur auf einem problematisch zwar denkbaren, aber seiner objektiven Realität nach für sie nicht erweislichen und bestimmbaren Begriffe gründen konnte, nämlich die kosmologische Idee einer intelligibelen Welt und das Bewußtsein unseres Daseins in derselben, vermittelst des Postulats der Freiheit (deren Realität sie durch das moralische Gesetz darlegt, und mit ihm zugleich das Gesetz einer intelligibelen Welt, worauf die spekulative nur hinweisen, ihren Begriff aber nicht bestimmen konnte). 3. Verschafft sie dem, was spekulative Vernunft zwar denken, aber als bloßes transzendentales Ideal unbestimmt lassen mußte, dem theologischen Begriffe des Urwesens, Bedeutung (in praktischer Absicht, d.i. als einer Bedingung der Möglichkeit des Objekts eines durch jenes Gesetz bestimmten Willens), als dem obersten Prinzip des höchsten Guts in einer intelligibelen Welt, durch gewalthabende moralische Gesetzgebung in derselben.

Wird nun aber unser Erkenntnis auf solche Art durch reine praktische Vernunft wirklich erweitert, und ist das, was für die spekulative transzendent war, in der praktischen immanent? Allerdings, aber nur in praktischer Absicht. Denn wir erkennen zwar dadurch weder unserer[265] Seele Natur, noch die intelligibele Welt, noch das höchste Wesen, nach dem, was sie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffe von ihnen im praktischen Begriffe des höchsten Guts vereinigt, als dem Objekte unseres Willens, und völlig a priori, durch reine Vernunft, aber nur vermittelst des moralischen Gesetzes, und auch bloß in Beziehung auf dasselbe, in Ansehung des Objekte, das es gebietet. Wie aber auch nur die Freiheit möglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalität theoretisch und positiv vorzustellen habe, wird dadurch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solche sei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behuf postuliert. So ist es auch mit den übrigen Ideen bewandt, die nach ihrer Möglichkeit kein menschlicher Verstand jemals ergründen, aber auch, daß sie nicht wahre Begriffe sind, keine Sophisterei der Überzeugung, selbst des gemeinsten Menschen, jemals entreißen wird.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977, S. 264-266.
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