Anhang von dem, was geschehen kann, um Metaphysik als Wissenschaft wirklich zu machen

[250] Da alle Wege, die man bisher eingeschlagen ist, diesen Zweck nicht erreicht haben, auch außer einer vorhergehenden Kritik der reinen Vernunft ein solcher wohl niemals erreicht werden wird, so scheint die Zumutung nicht unbillig, den Versuch, der hievon jetzt vor Augen gelegt ist, einer genauen und sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen, wofern man es nicht für noch ratsamer hält, lieber alle Ansprüche auf Metaphysik gänzlich aufzugeben, in welchem Falle, wenn man seinem Vorsatze nur treu bleibt, nichts dawider einzuwenden ist. Wenn man den Lauf der Dinge nimmt, wie er wirklich geht, nicht, wie er gehen sollte, so gibt es zweierlei Urteile, ein Urteil, das vor der Untersuchung vorhergeht, und dergleichen ist in unserm Falle dasjenige, wo der Leser aus seiner Metaphysik über die Kritik der reinen Vernunft (die allererst die Möglichkeit derselben untersuchen soll) ein Urteil fället, und dann ein anderes Urteil, welches auf die Untersuchung folgt, wo der Leser die Folgerungen aus den kritischen Untersuchungen, die ziemlich stark wider seine sonst angenommene Metaphysik verstoßen dürften, eine Zeitlang bei Seite zu setzen vermag, und allererst die Gründe prüft, woraus jene Folgerungen abgeleitet sein mögen. Wäre das, was gemeine Metaphysik vorträgt, ausgemacht gewiß (etwa wie Geometrie), so würde die erste Art zu urteilen gelten, denn wenn die Folgerungen gewisser Grundsätze ausgemachten Wahrheiten widerstreiten, so sind jene Grundsätze falsch, und ohne alle weitere Untersuchung zu verwerfen. Verhält es sich aber nicht so, daß Metaphysik von unstreitig gewissen (synthetischen) Sätzen einen Vorrat habe, und vielleicht gar so, daß[250] ihrer eine Menge, die eben so scheinbar als die besten unter ihnen, gleichwohl in ihren Folgerungen selbst unter sich streitig sein, überall aber ganz und gar kein sicheres Kriterium der Wahrheit eigentlich-metaphysischer (synthetischer) Sätze in ihr anzutreffen ist: so kann die vorhergehende Art zu urteilen nicht Statt haben, sondern die Untersuchung der Grundsätze der Kritik muß vor allem Urteile über ihren Wert oder Unwert vorhergehen.

Quelle:
Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1977, S. 250-251.
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